Hochverdient! Lucy Wilke und Paweł Duduś haben mit »Scores that shaped our friendship« den Faust-Preis gewonnen.

Lucy Wilke und Paweł Dudus: Utopie der Nähe und der Akzeptanz

lucy wilke

Lucy Wilke und Paweł Duduś in ihrem Projekt »Scores that shaped our friendship« | © Martina Marini-Misterioso

Der deutsche Theaterpreis »Der Faust« wird seit 2006 jährlich in sieben Kategorien vergeben. Das Vorschlagsrecht haben die Theater selbst, die jedoch keine eigenen Künstler benennen dürfen. Unter den Gekürten waren über die Jahre recht viele Münchner und Interimsmünchner Ausstatter, Staatsopernsänger und mindestens vier Schauspieler von Brigitte Hobmeier 2007 bis Maja Beckmann 2019. Ex-Resi-Intendant Martin Kušej durfte die Trophäe 2012 für seinen einzigen hiesigen Wurf »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« mit nach Hause nehmen; sein Kammerspiel-Kollege Johan Simons bekam sie zwei Jahre danach. Doch die Tanzszene der Landeshauptstadt kam bislang nur in Gestalt des Choreografen Richard Siegal vor (der den Preis 2010 als Tänzer in einer Hamburger Produktion erhielt), und zuletzt gab es den Perspektivpreis für das sich über München, Potsdam und Hamburg spannende Netzwerk »Explore dance – Tanz für junges Publikum«. Auch darum darf der Faust für Lucy Wilke und Paweł Duduś als Sensation gelten. Sie bekommen den Darstellerpreis Tanz für ihre auch gemeinsam konzipierte Debütproduktion in der nicht eben lobbystarken freien Szene Münchens – und sie haben ihn so was von verdient!

»Scores that shaped our friendship« ist ein klug gebauter, unprätentiöser, herzerwärmender und mit kaum etwas anderem vergleichbarer Abend. Ich habe ihn seit der Premiere im Schwere Reiter Mitte März dreimal gesehen. Zuletzt bei der leicht veränderten Wiederaufnahme zwischen den Corona-Lockdowns an den Münchner Kammerspielen, deren Ensemble Wilke seit dieser Spielzeit angehört. Und »verändert« bedeutet in diesem Fall ausnahmsweise einmal nicht weniger Nähe und Berührung. Ganz im Gegenteil: Die entspannte Intimität zwischen den beiden hat real oder gefühlt (das ist dieser Tage oft schwer zu sagen) eher noch mehr erotische Anteile bekommen.

Ja, das geht, weil Lucy, Pawel und die Musikerin Kim Ramona Ranalter auch privat eine Infektionsgemeinschaft sind. Auf und jenseits der Bühne nehmen sich die mit der neuromuskulären Störung SMA geborene Sängerin und Schauspielerin und der queere polnische Tänzer die Freiheit einer Freundschaft heraus, die sich um Grenzen nicht schert und den anderen sein lässt, wie er ist. Was die beiden »anders« macht, wird ebenso wenig versteckt wie die Grausamkeit normativer Zuschreibungen und Blicke. Aber sie sind nicht das Thema des Abends, an dem es darum geht, sich aufeinander einzuschwingen und vorbehaltlos einzulassen. Pawel hilft Lucy dabei, ihren Körper zu spüren oder im Rollstuhl bequem zu sitzen. Und sie fordert die Hilfe ein, freundlich, souverän und bestimmt. Darin ist sie ebenso Meisterin wie im Berührungsfach. »Touch is a language we both speak very well«, heißt es am Ende von »Chapter 1« dieses sehr besonderen Freundschaftsglossars in sieben Kapiteln, in dessen neuer Version Pawel für Lucy so proud wie diensteifrig im arschfreien Schmetterlings-Body tanzt. Wenn das hypersexualisiert wirkt, dann weil sie es so wollen.

Natürlich bekommt man das alles so locker nicht ohne Vorerfahrung auf die Bühne. Paweł Duduś arbeitet schon länger zu den Themen Freundschaft, Selbstakzeptanz und Hingabe und gibt Kurse in »Poetics of intimate encounters«. Mit Lucy Wilke stand er schon 2017 in David von Westphalens »Fucking Disabled« auf der Bühne, wo es um das vermeintliche Tabu »Sex mit Behinderung« ging. Schon damals definierten die beiden mit ihren Körpern Schönheit und Nähe neu. In »Scores« kommt jetzt noch der Tanz dazu. Der besteht manchmal nur darin, auf kuscheligen Fellen nebeneinandersitzend den Kopf über die Brustplatte zu rollen und Mikrobewegungen miteinander zu synchronisieren. Dann wieder legt Pawel Lucys Körper auf seinen und bewegt ihre Arme und Beine wie die einer Puppe, ohne dass sie deshalb passiv wirkte.

Doch nicht alles, was die beiden miteinander anstellen, ist kuschelig. Es gibt einen langen, sehr erotischen Kuss. Und in einer Szene erzählt Lucy von ihrer Standard-Zurückweisung bei Tinder: »You have such a pretty face, but …« Während dieses »but« lange nachhallt, zieht ihr Pawel einen Strumpf über den Kopf und verreibt Farbe in ihrem Gesicht, die sie den Rest des Abends gezeichnet aussehen lässt. Opfer, Täter, aktiv, passiv? Diese Fragen stellen sich an diesem Abend ebenso wenig wie die nach den Grenzen zwischen Freundschaft, Liebe und Sex. Von einem »Theater ohne Absicherung, in dem sich zwei Menschen/Darsteller einander völlig aussetzen« schwärmt die Faust-Preis-Jury in ihrer Begründung. Und eben weil die Performer ganz bei sich bleiben, ihrem Körpergefühl, ihren Bedürfnissen und ihren Stärken (statt Defiziten), nie anklagen oder belehren wollen, ist das utopische Potenzial dieses kurzen Abends immens. Gerade jetzt, wo Nähe so rar geworden ist (und das Gezeter über angebliche Freiheitseinschränkungen so laut), kann man ihn gar nicht hoch genug loben. Chapeau und die allerherzlichsten Glückwünsche! ||

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