Der Filmemacher Burghard Schlicht legt seinen ersten Roman »Im Augenblick der Freiheit« vor.
Burghard Schlicht: Zeit der Träume, Zeit der Schäume
Burghard Schlicht machte seinem Namen noch nie Ehre. »Ich neige bei allem zu einer gewissen Länge: Ich bin eben ein barocker Typ«, erklärt der Frankfurter Schriftsteller mit Chuzpe in der Stimme am Telefon. »In meinem Drehbuch ›Nach Einbruch der Dunkelheit‹, das in einem Dorf während des Dritten Reichs spielt, gab es ursprünglich 66 Protagonisten, was natürlich die Redakteure verschreckte. Später wurde daraus immerhin ein sehr schönes Hörspiel.« Der gebürtige Detmolder war Klassenkamerad von Jörg Fauser, der ihn 1978 zum Journalismus lotste. Er schrieb für »TransAtlantik«, den »Spiegel«, »Stern« oder Daniel Cohn-Bendits Frankfurter Stadtmagazin »Pflasterstrand«. Er interviewte Persönlichkeiten wie Hans Magnus Enzensberger, Peter Weibel, Alain Robbe-Grillet, Salman Rushdie oder Marcel Reich-Ranicki und drehte als intellektueller Tausendsassa 400 Fernsehbeiträge.
Dass er generell über viele Talente verfügt, zeigt ein Blick in Schlichts vielseitige Vita: Ausstatter und Schauspieler beim jungen Rainer Werner Fassbinder (z.B. bei den legendären Dreharbeiten von »Warnung vor einer heiligen Nutte«) wie bei Wim Wenders’ »Die Angst des Tormanns beim Elfmeter«, Hans Noevers »Zahltag«, Hark Bohms »Wir wollen eine Arche bauen« oder Veith von Fürstenbergs »Ein bisschen Liebe«. 1970 wurde Burghard Schlicht vom Fassbinder-Entdecker Michael Fengler für den Jungen Deutschen Film engagiert, als er ihm die Hauptrolle des »Karate« in »Weg vom Fenster« anbot. Der Mitbegründer des Filmverlags des Autoren war es auch, der Schlichts Filmdrehbuch »Schattenboxer« als »Eierdiebe« verfilmte und ihm zwischendrin Jobs beim Filmverlag zuschusterte. Der Münchner Regieberserker von einst, RWF, sowie der progressiv-libertäre Umbruchgeist der 68er-Generation standen Jahrzehnte später Pate für Schlichts nun erschienenen ersten Roman »Im Augenblick der Freiheit«.
Wenig überraschend umfasst er stolze 528 Seiten, verklärt darin aber Fassbinders Antiteater-Periode oder den immensen Aufbruchsgeist des Neuen Deutschen Films in der Isarmetropole München, die nie namentlich genannt wird, keineswegs nostalgisch. Bereits in Kapitelüberschriften wie »Augenflimmern«, »Genie in der Morgendämmerung« oder »Rückblick ins Zeitalter der Egoisten« zeigt sich Schlichts dialektisch-autoreflexiver Autorenblick. Er reicht vom antiautoritären Kommunenleben bis hin zur blutigen Genese des RAF-Terrors. »Damals wollte ich ›Film lernen‹: Ich war neugierig wie ein Tier. Deshalb lebte ich ein halbes Jahr bei der Fassbinder-Clique in Feldkirchen«, erinnert sich Schlicht. »Das war eine riesige Villa mit Swimmingpool im Garten. Es war ein Kommen und Gehen. Trotzdem herrschte eine sehr kreative Stimmung. Natürlich wurde ständig Cuba Libre getrunken, gleichzeitig war Rainer 1970 in einem wahren Schaffensrausch: sieben Filme in einem Jahr! Das war der Wahnsinn.«
Trotzdem war das Junggenie, das im Roman nicht ohne Spott als der »große Kantlehner« tituliert wird, im Rückblick kein liebenswürdiger Mann: »Wer hasst, der ist der King«, lautete eines seiner Lebensmottos. Damit konnte sich Schlicht nie identifizieren. Genauso wenig wie mit Fassbinders gefeiertem Frühwerk. »›Katzelmacher‹ mochte ich überhaupt nicht. Den hatte auch Wenders als junger Filmkritiker ziemlich verrissen. Für mich begann erst mit ›Händler der vier Jahreszeiten‹ Fassbinders beeindruckende Regiekarriere. ›Martha‹ ist dabei immer mein Lieblingsfilm geblieben.« Dass Fassbinder als Kind »zu wenig Liebe erfahren« hatte, nennt Schlicht einen wesentlichen Grund für dessen unbändigen Schaffensdrang. Seit 2012 arbeitete Burghard Schlicht mit einer »notwendigen Distanz« an jenem Zeitroman, weil seinen Kindern der Name Fassbinder nichts mehr sagt. Herauskommen sollte keineswegs »eine klassische Hommage«. Viel lieber sinniert Schlicht darin über den »Schaum von 1968«, wählt dafür eine multiperspektivische Erzählweise in Form einer komplexen Vater-Mutter-Tochter-Beziehung und spannt den zeitgeschichtlichen Bogen vom Mekka des deutschen Autorenfilms bis zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001.
Natürlich würde er sich darüber freuen, wenn jemand irgendwann einmal all die Anspielungen (»Der Belmondo von Milbertshofen«) und Musikzitate, die von Lou Reed über Bob Marley bis hin zu Yves Montand reichen, in einer Doktorarbeit zusammenfasst. Schließlich ist Schlichts Schreibstil ausgesprochen filmisch-assoziativ: »Schnell Aufblende aus dem Schwarz – außen Tag, steil von oben gesehen (Flugaufnahme) blicken wir auf eine sonnenbeschienene Stadtlandschaft. Ein großes weißes Cabriolet fährt über eine Allee in die Landeshauptstadt hinein.« Das macht Spaß, hat Drive: mit und ohne RWF-Insiderwissen. ||
BURGHARD SCHLICHT: IM AUGENBLICK DER FREIHEIT
Verlag Olga Grueber | 528 Seiten | 26 Euro
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