Reicht es, wenn eine Gesellschaft als Zivilisation funktioniert? Es gibt Menschen, die sich nicht damit zufriedengeben, einfach zu überleben. Man ist hier ja nicht im Krieg. Für diese Menschen geht es auch um das WIE. Hier kommt die Kultur ins Spiel. Denn sie ist es doch, die das Leben lebenswert macht. Oder?
Kultur & Corona: Suche Ticket!
Hier der erste Teil des Textes
Schleichende Entwöhnung
»Es ist kein Wunder, dass die Leute sich nicht ins Theater trauen, wenn sie ständig von politischer Seite mit Katastrophenszenarien und mit der Drohung von Lockdowns konfrontiert werden«, sagt Hannah Stegmayer vom Bürgerhaus Pullach. Wenn dem Publikum die irrige Vorstellung genommen würde, dass Kunst und Kultur gefährlich für Leib und Leben sind, wäre schon viel gewonnen. Hans-Jürgen Drescher, Präsident der Theaterakademie August Everding und Hausherr des Prinzregententheaters, sagt: »Wir Theaterleiter sind inzwischen zu Spezialisten für die Wirksamkeit und Geschwindigkeit des Luftaustauschs in unseren Zuschauerräumen geworden. Im Prinzregententheater wird die komplette Raumluft innerhalb von gut 11 Minuten durch Frischluft ersetzt. Der Richtwert der Gesetzlichen Unfallkasse liegt bei 12 Minuten. Es gibt also kaum einen Ort in unserem Land, der sicherer wäre als ein maschinenbelüfteter Theaterraum. Das gilt für die meisten deutschen Bühnen.« In der Staatsoper sind es 9 Minuten, im Gasteig etwa 15. Damit liegen die Theater weit unter den modernsten Zügen und Flugzeugen. Also wo ist das Problem?
Es muss nicht die Angst vor der Ansteckung sein, die den Kunstbesuch verhindert. So mancher wird einfach phlegmatisch. Es ist wie beim Sex: je mehr, desto mehr – und je weniger, desto weniger. Die Entwöhnung vollzieht sich schnell und unauffällig. Keine Lust mehr. Es fehlt ja auch das Vorspiel und das Nach-der-Vorstellung-Gekuschel. Kunst stiftet Identität, sie ist der Motor für eine leidenschaftliche Form der Auseinandersetzung, sie stellt Nähe und magische Verschworenheit her, sich als Teil eines Ganzen und dabei auch noch erhaben über den banalen Alltag zu fühlen. All das fehlt seit Monaten. Wie soll dieses Vakuum kompensiert werden? Wir erleben gerade, dass die unvergleichlich reiche Kulturlandschaft in Deutschland in akuter Gefahr ist. Dabei ist es ist wie mit einem schweren Ozeanschiff. Wenn die Motoren ausfallen, fährt es erst mal ein Stück weiter, bevor es langsamer wird und schließlich anhält. Viele würden also erst mal gar nicht merken, dass es der Kultur schlecht geht. Wer vermisst die tagesaktuelle Livekunst denn wirklich? Oder vermissen die Künstler das Publikum viel mehr als andersherum? Wie sehr die Kunst mit dem beiderseitigen Bedürfnis nach Gemeinschaft zusammenhängt, beschreiben drei Praktiker: Claudia Weber, Pressesprecherin im Lenbachhaus, sagt: »Kunst, die nicht gesehen wird, existiert nicht. Und der Austausch über das Werk, das Gespräch darüber, findet im Museum, in der Galerie statt. Das Museum ist ein sozialer Ort.« Dunja Bialas, »Artechock«-Redakteurin und Filmkunstwochen-Kuratorin: »Das Publikum eines Films ist mehr als der einsame Streamer auf der Couch. Publikum bedeutet Öffentlichkeit, Gemeinschaft unter Menschen, die sich nicht kennen. Im Sehen werden gemeinsam Emotionen durchlebt, wird gemeinsam eine fremde Geschichte erlebt, einem Thema begegnet. Das alles ist gesellschaftsbildend. Fällt das weg, zersprengt sich die Gesellschaft in die Einzelsplitter der Individuen. Solange es ein Publikum gibt, gibt es auch Diskurs und Demokratie. Das findet nicht im Wohnzimmer statt.«
Und Vincent Glander, Ensemblemitglied des Residenztheaters, erklärt: »Es ist irritierend für uns, wenn sich die Leute nicht trauen zu lachen und wir keinen Kontakt zum Publikum kriegen. Wenn es stumm bleibt im Saal, weil die Leute sich nicht gegenseitig mitreißen. Die Stimmung lässt sich total schwer ermitteln, wenn die Zuschauer ihre Feedbacks und Reaktionen hinter der Maske halten. Jetzt müssen wir uns die Publikumsreaktionen dazu denken, während wir spielen. Das Publikum ist mindestens so wichtig wie die Spielpartner auf der Bühne. Wir sind da ja mehrere im Bunde! 50 Leute im großen Haus sind traurig, das fühlt sich eher an wie eine Beerdigung, zu der die Verwandtschaft nicht anreisen darf. Ein ganz großes Problem ist die soziale Komponente des Theaterbesuchs, dass man mit Freunden hingeht und über den Abend redet. Da fehlt ein ganz wichtiger Teil von Theater: das Direkte und das Gemeinschaftliche. Im Theater bleibt man normalerweise nicht allein. Das ist ja die Grundidee davon. Mancher Besucher vermisst jetzt vielleicht sogar das Geraschel des Nachbarn.«
Viel mehr als Zeitvertreib
Wer also tatsächlich etwas bewirken könnte, sind nicht allein die Politiker. Wenn die Kunst und ihre Schöpfer diese Zeit überleben sollen, dann nur, weil das Publikum es so will. Wenn vor jedem Theater, vor jedem Museum und jedem Konzerthaus täglich Warteschlangen mit »Suche Ticket«-Schildern stehen würden, wäre der Druck auf die Entscheider viel größer, die Platzzahlen zu erhöhen. Ohne Publikum liegt der Verdacht nahe: Vielleicht gibt es gar nicht so viele Menschen, wie wir uns es immer wieder einreden, die Kunst und Kultur wirklich wie ein Lebensmittel brauchen. Jedoch: Der Resonanzraum einer Stadt, ihr Charisma, wird nicht vor allem von Arbeitsplätzen und Joggingstrecken geprägt. Es ist das kulturelle Grundrauschen, das eine Stadt attraktiv macht, selbst wenn viele Bewohner die kulturellen Angebote nie wahrnehmen. Sie spüren trotzdem, was den Zauber ausmacht: die Verheißungen, die Möglichkeiten, die Perspektivwechsel, die Überraschungen, die Erotik der Kunst. Jetzt reichen aber Absichtserklärungen, man könnte ja irgendwann mal hingehen, nicht mehr aus. Jetzt muss das Publikum aktiv werden. Denn was bleibt von dieser Gesellschaft, wenn der große Ausnahmezustand einmal vorbei ist?
Der 74-jährige Marek Lieberberg, einer der wichtigsten Popkonzertveranstalter weltweit, sagte jüngst in der »Süddeutschen Zeitung«: »Der Stoff, aus dem unsere Gesellschaft besteht, das, was sie im Kern ausmacht, ihre Inspiration und Imagination, all das wird gerade ausgehöhlt. Das ist ein schwerer Kollateralschaden, auch für unsere Demokratie. (…) Wir werden zurückkommen, da bin ich sicher. Die Frage ist, was auf der Strecke bleibt. Und wer.« Bayerns Kunstminister Bernd Sibler hat in einer Presseerklärung am 23. Oktober mitgeteilt: »Kunst und Kultur nehmen gerade in schwierigen Zeiten wie diesen eine sinnstiftende und verbindende Funktion ein, schenken uns Freude, Abwechslung und Ablenkung. Diese Wertschätzung soll auch in der Unterstützung zum Ausdruck kommen.« Kunst ist demnach also vor allem wertvoll, wenn es um Möglichkeiten des eskapistischen Zeitvertreibs geht. Was er nicht benennt, ist die unbequeme Seite der Kunst, die gerade vor die Hunde geht: Die Stimmen derer, die den Finger in die gesellschaftlichen Wunden legen, die es wagen, undemokratische politische Alleingänge zu hinterfragen, die Zukunftsszenarien vorwegnehmen und die vor der Barbarei warnen, die einsetzt, wenn auf die Kunst verzichtet wird. Andreas Rosenfelder fragte in der »Welt am Sonntag«: »Muss es mit Blick auf die deutsche Geschichte nicht beunruhigen, dass ein einziges Gesetz, nämlich das Infektionsschutzgesetz, einen so fundamentalen Umbau der Gesellschaft tatsächlich erlaubt?« Eine Diskussion hierüber fand kaum statt, vor allem nicht in den demokratisch gewählten Parlamenten. Die Kunst kann all das hinterfragen. Sie ist das Fenster zur Freiheit. Aber wollen Kunstminister und ihre Politikerkollegen das? Eigenmächtig geöffnete Fenster? Von der Kunst motivierte gesellschaftliche Diskurse, die für die Politik nicht gemütvolle Abwechslung sind? Genau deshalb ist das Publikum so wichtig wie nie: als Lebens- und Spielpartner der Künste und ihrer Protagonisten. ||
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