Aufgrund der kommenden Einschränkung des Kulturlebens posten wir diesen Text aus unserer Ausgabe 101 vorab hier in voller Länge. So haben Sie noch die Chance, diese Veranstaltung wahrzunehmen.
Das Kunstkollektiv GNOTHIS lädt ein zu einer Mixed-Reality-Experience, die von der Antike direkt ins digitale Zeitalter führt.
GNOTHIS: Mit dem »Guhguh« in die Zukunft sehen
Ein Orakel nach der Zukunft zu befragen, war im antiken Griechenland gängige Praxis. Dafür reisten die Ratsuchenden über weite Strecken zum Heiligtum nach Delphi, brachten Opfergaben dar und bekamen dafür rätselhafte Botschaften mit auf den Weg, auf die sie sich frei nach der Inschrift des Apollo-Tempels »gnothi seauton« – »erkenne Dich selbst« ihren eigenen Reim machen durften. Heute fragen wir in den meisten Fällen erst einmal unseren universellen Antwortautomaten Google um Rat und hinterlassen dabei als unfreiwillige Gegengabe Spuren im Netz, die sich bestenfalls in allerlei personifizierte Werbeangebote ummünzen lassen und schlimmstenfalls die totale digitale Überwachung ermöglichen.
An der Verknüpfung solcher Suchbewegungen durch Zeit und (virtuellen) Raum arbeitet das Kunstkollektiv GNOTHIS schon länger. Jetzt lädt es Interessierte zu einem XR-Spaziergang ein: Eine renovierungsbedürftige Villa im Stadtteil Nymphenburg-Neuhausen ist der Eingang zu einer ungewöhnlichen Reise in Vergangenheit und Zukunft zugleich, bei der sich reale und virtuelle Erfahrungen ineinander blenden. Wie im Märchen begegnet man in einer Ecke des verwunschenen Gartens einer silbrig geharnischten Zauberin und bekommt von ihr eine gläserne Kugel mit Griffen namens »Guhguh« überreicht, durch die sich die Umgebung und manch andere Erscheinungen beobachten lassen. Mit QR-Codes versehene Marmorplatten erweisen sich als Schnittstellen, und plötzlich zeigt eine schemenhafte Erscheinung im Blickfeld den Weg. Im Treppenhaus wabern mit zunehmender Höhe Wolken an Wänden und Decken, im dritten Stock blickt man über bergige Wüsten und auf dem Dachboden findet eine Begegnung mit einer anderen Dimension statt, über die hier noch nichts verraten werden soll.
Seit anderthalb Jahren arbeitet die Künstlerin Aida Bakhtiari, die nach ihrem Studium an der Münchner Kunstakademie bereits mit stachlig-fragilen Glasskulpturen in Erscheinung trat und anschließend noch den Studiengang Kunst und Multimedia an der LMU absolvierte, an der neuartigen Verknüpfung von haptischer Steuerung mit Mixed-Reality-Experience. Darüber hinaus interessiert sie sich auch dafür, was passiert, wenn eine Idee innerhalb kurzer Zeit interdisziplinär weiterentwickelt wird. Dazu hat sie die bildende Künstlerin Katrin Savvulidi, den Programmierer und Tech-Artist Alexander Degner und den Noise-Komponisten Daniel Door mit ins Boot geholt.
Erkenne dich selbst – der Aufruf gilt dabei uneingeschränkt auch für die Mitwirkenden des Projekts. Für Savvulidi ist es spannend, welchen Freiraum es zulässt, eine Rolle in einem Team einzunehmen und sie wieder zu verlassen, zu schauen, wie es funktioniert, Hierarchien abzuflachen, aber manchmal dann doch auch wieder jemanden zu brauchen, der sagt, das muss jetzt so gemacht werden. »Wie sich Motivation generiert, das hat auch viel damit zu tun, wie man das Ergebnis der anderen wertschätzt und dann auch wieder etwas verwirft«, beschreibt sie ihren Eindruck. »In einer Gruppe, die recht überschaubar ist, kann man so etwas ausprobieren. Wir sind Menschen und wir sind verletzlich, aber trotzdem ist Vertrauen da und man kann über die Dinge und über sich selbst reden.« Ein Prozess, der sich auch in den Visionen niederschlagen wird, die auf dem Speicher der alten Villa auf die Besucher*innen warten. Ein ungewohnter Blick auf das eigene Bewegungsbild ist dabei schon vorprogrammiert. ||
GNOTHI SEAUTON 3.0 – ERKENNE DICH SELBST
super+ Villa | Renatastr. 69 | 29. Okt. bis 14. Nov.|Mi/Do 16–19Uhr | Fr 16–20 Uhr | Sa/So 11–20 Uhr| Anmeldung
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