Beim Schamrock-Festival treten Lyrikerinnen aus der ganzen Welt unter dem Motto »Einmischen – Poetry for Future« in der Münchner White Box auf, live und per Stream.
Schamrock 2020: Das Wort den Dichterinnen
Imagination und Gedichte seien Mittel zur Selbsterhaltung und Lebenshilfe, Schutzschilde gegen die zermürbende Wirklichkeit, schrieb der amerikanische Dichter Wallace Stevens Anfang der 1940er Jahre. Eine Einsicht, die seither nichts an Wahrheit verloren hat. Gerade jetzt, in den weltweit pandemischen Zeiten, die mürbe machen, rückt uns das Gedicht nahe.
Lange Zeit blieb es spannend, man wusste nicht, ob das Schamrock-Festival der Dichterinnen dieses Jahr, zum fünften Mal, in München Ende Oktober überhaupt stattfinden kann. Ob die Gastgeber und die von weither anreisenden Gäste, und nicht zuletzt das Publikum, sich dem Risiko und den Unsicherheiten in diesem turbulenten Jahr aussetzen wollen. Doch die Veranstalter Augusta Laar und ihr Mann Kalle Aldis Laar ließen sich bei der Vorbereitung nicht beirren.
Unter dem Motto »Einmischen – Poetry for Future« wird es nun starten, wenn auch in leicht veränderter Form und vermehrt per Videozuschaltung. Alles vorbereitet, es ist angerichtet: prominente Namen wie Marlene Streeruwitz aus Österreich, Yirgalem Fisseha Mebrahtu aus Eritrea, die Grazer Klangperformerin Katharina Klement, die Lyrikerinnen und Wortkünstlerinnen Anja Utler, Barbara Hundegger und Birgit Kempker, um nur wenige zu nennen. Sie haben sich verabredet mit Entdeckungen aus Katalonien, Äthiopien, Eritrea, Kanada und anderen Ländern.
Wie gehen die vielen Dichterinnen und Musikerinnen aus fünfzehn Ländern um mit den brisanten globalen Themen unserer Zeit? Poesie in Zeiten von Klimawandel und Ressourcenknappheit, Corona-Pandemie und Flüchtlingsproblematik, Ungleichheit und Ungerechtigkeit, geht das überhaupt? Ja. Das Festival tritt alle zwei Jahre den Beweis an mit Wort- und Klangpoesie, Performances, Slampoetry, Live-Musik-Veranstaltungen, Live-Streamings, Crossover- und Übersetzungsprojekten, im Vorfeld produzierten Filmbeiträgen, Workshops und Podiumsgesprächen. Lyrisches Sprechen. Lyrische Stimmen. Lyrische Bewegung. In Münchens urbanem Veranstaltungsort White Box kann das interessierte Publikum bei dem Versuch der Realisierung des Spagats zwischen Wort und Klang, zwischen äthiopischer Live-Musik und Poetinnen, die hier noch nie zu hören waren, dabei sein. Die Stadt München eignet sich schon aus Gründen der Tradition für so ein Vorhaben, haben doch Annette Kolb und ihre Kolleginnen vor über hundert Jahren ähnliche Ziele verfolgt.
Bei allen Organisations-, Sprach- und Übersetzungsproblemen bietet der Umstand, dass die Dichterinnen aus so vielen Ländern kommen, etwas sehr Wertvolles, nämlich, so Laar, den Austausch von Ideen, Sprachen und Klängen und den alten und neuen, über allem schwebenden Traum von Internationalität. Klang- und Wort-Lyrikerinnen aus Äthiopien und Eritrea, aus Litauen, Malta, England, Schottland, Katalonien, Österreich, der Schweiz, Hongkong, Dänemark, Grönland und Kanada lassen das Publikum hineinschauen in ihre Arbeit und ihre Lebenswelten, vielleicht auch in ihre Seelen.
Dabei hat sich die Gründerin, Augusta Laar, das Festival »aus einer Wut heraus« ausgedacht. Waren es doch immer die Männer, die auf den Podien saßen und ihre Gedichte lesen durften, sagt die Lyrikerin, es waren bevorzugt Männer, die bei den wenigen Verlagen, die Lyrik ins Programm nehmen, landeten, Männer in den leitenden Verlagspositionen. Dem galt es etwas entgegenzusetzen. Sie starteten als Lyrik-Salon mit eher bescheidenen Einschaltquoten. Doch das Interesse wurde immer größer, die Teilnehmerinnen internationaler. Mit ihrem Ehemann, dem Klangkünstler Kalle Aldis Laar zusammen stellte sie erst zurückhaltend, nun gewachsen und gar nicht mehr so schüchtern, dieses weltweit einzigartige Festival für Dichterinnen auf die Beine. Der Name Schamrock ergab sich dann: aus Scham, dem weiblichen Organ, hergeleitet von »sich schämen«, sich verstecken, und dem Rock als Bedeckung derselben, aber auch als Musik und Bewegung im Sinne der Befreiung. Klingt feministisch? Ist es, aber nicht nur, das wäre den Kuratoren viel zu eingeengt. Eher ist es ein Festival, bei dem einmal die Dichterinnen zum Zuge kommen. ||
Ein paar Fragen an Yirgalem Fisseha Mebrahtu
Franziska Sperr war sechs Jahre im deutschen PEN für das Writers-in-Exile-Programm verantwortlich. Sie sprach mit der Münchner Stipendiatin Yirgalem Fisseha Mebrahtu aus Eritrea, die bis zu ihrer Freilassung 2015 jahrelang unter schlimmsten Bedingungen im Gefängnis »Mai Swra« ausharren musste. Einzelhaft, Folterungen ohne Anklage und Gerichtsverfahren.
Was kommt Ihnen bei dem Titel des Festivals »Einmischen – Poetry for Future« in den Sinn?
Natürlich arbeiten wir alle daran, eine bessere Zukunft zu haben. Wir träumen und reisen, um sie sehen zu können, zu erreichen, um sie zu haben. Als Schriftstellerin ging ich einen gefährlichen, grauenvollen Weg, nur um mein Leben zu retten und eine bessere Zukunft zu haben. Wir kämpfen für eine bessere Zukunft, ich kann sagen, wir leben für die Zukunft. »Einmischen – Poetry for Future» klingt gut.
Wie fühlen Sie sich nach den zwei Jahren in München?
Ich mag München. Das ist natürlich mein erster Eindruck. München ist die erste Stadt in meinem Leben in einem zivilisierten Land, einer zivilisierten Stadt. Ich habe eine besondere Beziehung zu München, der Stadt, die mir so vieles für mein Leben schenkte.
Haben Sie Pläne für die Zeit nach dem PEN-Stipendium?
Ich wäre glücklich, wenn ich bleiben dürfte, wenn die Regierung mir Asyl gewährt. Ich lerne so viel, was ich vorher nie erfahren habe. ||
5. SCHAMROCK-FESTIVAL DER DICHTERINNEN. INTERNATIONALE POETRY BIENNALE MÜNCHEN
whiteBOX.art | 23. bis 25. Oktober 2020
Atelierstr. 18, 81671 München | Programm | Tickets
Unsere aktuelle Ausgabe:
Verkaufsstellen
Online-Kiosk
ikiosk.de
Sie bekommen die aktuelle Ausgabe gratis zu jeder Bestellung bei den folgenden Buchhandlungen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Dieter Wieland: Alle Filme in der BR-Mediathek
»Penis – eine Umarmung« von Lucy Wirth und Ines Hollinger
Friedrich Ani: Der Münchner Autor im Porträt
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton