Die Katholische Akademie in Bayern zeigt eine vielfältige Werkschau der unkonventionellen Künstlerin Dorothea Reese-Heim.
Dorothea Reese-Heim: Plexiglas und Paraffin
Was fällt ihr wohl als Nächstes ein, der Dorothea Reese-Heim? In ihrer Ausstellung in der Katholischen Akademie in der Münchner Mandlstraße fragt man sich jedenfalls zuerst einmal: Stellt da wirklich nur eine einzige Künstlerin aus? Die verwendeten Werkstoffe sind zwar einfach, aber richtig unterschiedlich. Sie reichen vom japanischen Kozo-Papier, hergestellt aus der inneren Rinde des Papiermaulbeerbaums, bis zum schnöden Acrylglas oder technischen Geweben. Und auch die reiche formale Vielfalt weist auf keinerlei Berührungsängste hin. Riesige raumgreifende fragile Wandobjekte wechseln sich mit dramatischen Zeichnungen ab. Glasbilder, feste und transparente Plastiken, flüchtig wirkende Deckenskulpturen oder Videoarbeiten gehören auch zum präsentierten Œuvre.
Was treibt die 1943 in Sindelfingen geborene Münchner Künstlerin, die lange Jahre (1983–2009) an der Universität Paderborn das Fach Textilgestaltung lehrte, an? Sicher ist: Reese-Heim experimentiert fürs Leben gern – und schätzt wohl eher die Abwechslung als die Routine. Das zeigt auch eine ihrer letzten Arbeiten, die der Ausstellung den Titel »An der Grenze zum Schatten« lieh. In der lapidaren Installation verband sie ausgeschnittene, in Form gebrachte Acrylglasscheiben, PVC-Schläuche und Leuchtpigment. Dramatische Lichteffekte, scheinbar schwebende Scheiben und von selbst stehende Schläuche sind die künstlerische Folge. Besonders in der Dämmerung und in der Dunkelheit wirkt diese Kreation wie nicht von dieser Welt. Die Arbeit leuchtet – ohne energiefressende technische Apparaturen.
Beeindruckt hat das auch die Jury beim Wettbewerb für die »Kunst am Bau« an den Fluggastbrücken der geplanten Erweiterung des Terminals 1 am Münchner Flughafen. Dort soll Reese-Heim ihre luftig-transparenten luminiszierenden Objekte an den Fluggastbrücken installieren. Einige der Titel lassen erahnen, wohin die Reise gehen soll: »Kometenschweif«, »Sonnenscheiben«, »Asteroiden«. Die derzeitige Konstruktionsweise funktioniert am Flughafen aufgrund der anderen Größenverhältnisse und Brandschutzbestimmungen allerdings nicht. Die Scheiben müssen aus Glas gefertigt werden, wodurch sie deutlich schwerer werden. Die Fertigstellung war – vor Corona – übrigens für Ende 2022 geplant.
In ihrem kymatischen Klangobjekt »Klangrosette« beschäftigt sich Reese-Heim mit dem chaostheoretischen Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit. Nicht so kompliziert, wie’s klingt. Schwingungsmuster einer gespielten Komposition (in diesem Fall von Michael Grill) werden in Bilder umgemünzt. Die Amplituden der Musik überträgt ein Lautsprecher auf eine mit Farbpigment, Blütenstaub und Lycopodiumpulver bestäubte Membran. Das entstehende vibrierende Muster zeichnet eine Videokamera auf. Erstaufführung war 2001. Was die Künstlerin inspirierte: Die mit kleinen bunten Glasflächen ausgefachte dekorative Rosette galt in den mittelalterlichen Kathedralen als höchster Ausdruck der Überwindung der Erdenschwere, da sie sich mit ihrer dynamischen Bewegung dem Versperrten und Beharrenden, den harten Umrissen und dem Statischen entgegensetzt – so jedenfalls formulierte das Rainer Volp 1966. Präzise Drehungen – und zwar ihrer eigenen Arme – nutzte Reese-Heim bei der »Serie der Handlinien«. Mit Graphitstiften oder Kreide zwischen den Fingern schuf sie so teils mehr als drei Quadratmeter große Papierarbeiten wie »Doppelrotation Nr.2« (2010). Bei den schon etwas älteren »Säulen« oder »Präparaten« von 1996/97 – auch diese monumental, zart, fragil – schöpfte die Künstlerin das Papier selber und kreierte mit Flechtschnur, Schweißdraht und runden, nicht ganz geschlossenen Federstahlringen archaisch anmutende Objekte, die an rätselhafte Papyri oder andere archäologische Fundstücke aus lang vergangenen Zeiten erinnern. Selbst Paraffin oder Glasmalfarbe nimmt sie her: In der Reihe »Versiegelte Schriften« wurden 2019 Papiere, Abreibebuchstaben, ganze Bücher in Paraffin gegossen. Das konserviert, macht aber unbenutzbar. Im TIM in Augsburg zeigte sie 2012 auch »Unnütze Bücher« dieser Art. Nun ordnete sie diversen Formspielen passende humorige Wortspiele zu: »Geflügelte Worte«, »Büchersafe«,
»Schattenboxen«.
Im Münchner Petuelpark fotografierte Reese-Heim 2018 Birkenstämme und -kronen, um die kontrastreichen Vorlagen anschließend in Hinterglasbilder zu transformieren, die nach Art von Aquarellen fabriziert wurden. »Tektonische Überzeichnungen« nennt sie die raffinierten, hochkompliziert hergestellten schwarz-weißen Schöpfungen, die einzig und nicht wiederholbar sind. Zwischen Glas und Papier verblieb eine sehr dünne wasserführende Schicht, so dass die schwarzen Töne aus Tusche, Tinte, Glasmalfarbe mit künstlerischer Mithilfe ein Eigenleben (in gewissen »freien« Grenzen) wie beim Aquarellieren entwickeln konnten. Schaut man genau hin, erkennt man auch, wo die Farbe auf dem Glas sozusagen klebt.
Deuten lassen will Reese-Heim ihre Werke freilich nicht. Sie fordern aber auch nicht nur zum ästhetischen Staunen oder zur sinnlichen Wahrnehmung auf. Auch verleugnet sie ihre Herkunft aus der Textilkunst und -gestaltung nicht. Da spielt die Struktur der Oberfläche eine große Rolle. Das Spiel aus Licht und Schatten charakterisiert die Wahrnehmung des Gewebes, der Textur. Zu wundern braucht es nicht, dass die Arbeit mit Licht für die Künstlerin immer wichtiger wurde. Es wird reflektiert, Werkstoffe verändern sich darin, sie leiten oder speichern es. Dabei experimentierte sie sogar mit verschiedenen Kunstlichtarten und Schwarzlicht. Und so macht sie einfach immer weiter. ||
AN DER GRENZE ZUM SCHATTEN. DOROTHEA REESE-HEIM
Katholische Akademie in Bayern | Mandlstraße 23
bis 18. Dezember | Mo–Fr 9–17 Uhr und nach telefon. Vereinbarung | Eintritt frei, Anmeldung unter 089 38102-0 | Zur Ausstellung »Seh-Dinge« 2012 im TIM, Augsburg, erschien ein umfangreicher Katalog im Verlag Wissner zum Preis von 19,90 Euro
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