Die Alexander Tutsek-Stiftung präsentiert eine facettenreiche Auswahl zeitgenössischer Fotografie aus China.
Fotografie aus China: Das dritte Auge
Ein seltsamer Style: Auf einem poppigen Sofa mit Graffitimuster, vor magentaknalligen Wänden, sitzt ein junger Mensch mit auftoupierter Kurzhaarfrisur, in knappem Top und löcheriger Kniehose, hält eine Langhaarperücke auf den übereinandergeschlagenen Knien und starrt mit offenen Augen ins Leere – Verzweiflung, Langeweile, Introspektion? Ein seltsames Dokument: Vier Frauen, in unterschiedlichen Jacken, wohl gleichgesinnte Pioniere des Alltags mit Tüten in den Händen, streben voran auf dem Weg, doch das Bild in verblassten Schwarzweiß-Kontrasten und Sepiatönen ist aus quadratischen Teilen in Reihen zum Ganzen zusammengepuzzelt. Ein seltsames Gespinst: Fixiert an Nägelchen, vor weißer Pappe, hängt Falten bildend ein unendlich zartes, in Tönen changierendes und schillerndes Substrat, eine durchsichtige Haut, die schon ein Hauch, eine Berührung, beschädigen könnte.
Chen Ronghui, Zhang Xiao, Jiang Pengyi: drei Namen, drei Positionen von 14 chinesischen Fotograf*innen, die die Alexander Tutsek-Stiftung präsentiert. Die sammelt und fördert nämlich nicht nur intensiv zeitgenössische Kunst aus dem Material Glas, sondern pflegt auch eine respektable, wachsende Sammlung künstlerischer Fotografie. Nach der Farbfoto-Serie »Study for Chinese Summerhall« (1983) von Robert Rauschenberg im letzten Jahr zeigt sie nun Fotokunst der letzten 20 Jahre aus China. »About us«, der Titel der vielgestaltigen und faszinierenden Ausstellung, weist den 70 ausgewählten Fotografien Zeugenschaft zu für die Suche nach dem Persönlichen, den eigenen Erfahrungen, dem individuellen Standpunkt und dem verbindenden Wir in einer sich rasant verändernden Gesellschaft.
An den drei genannten Beispielen wird das bereits deutlich. Das melancholische, rätselhafte Porträt aus der Jugendlichen-Serie »Freezing Land« (2016–18) von Chen Ronghui zeigt, wie der Fotograf einmal erläuterte, einen 14-jährigen Jungen, der sich im Live-Streaming ausstellt und von Digitalgeld-Zuwendungen seiner Fans finanziert, mit denen er online interagiert. Mit seiner 8×10 Großformatkamera widmete sich Chen Ronghui dem ehemaligen Wirtschaftswundergebiet in Chinas Nordosten, dessen Bodenschätze und Schwerindustrie einst unter Mao 15 Millionen Arbeitsmigranten anzog – und das nach einer dramatischen Rezession seit der Jahrtausendwende verödete.
Die Isolation und Desorientierung, das Zögern der Hoffnungslosigkeit der dort aufgewachsenen jungen Generation ist dem Fotografen selbst nicht fremd. Und er teilt die migrantischen Erfahrungen. »Wie so viele junge Chinesen habe ich meinen Heimatort verlassen auf der Suche nach einer Chance in der Stadt. Und wie so viele andere junge Chinesen hat dies mich in innere Unsicherheit gestürzt. Nun, wo ich weggegangen bin, fühle ich mich fehl am Platz, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land.«
So haben sich mehrere Fotograf*innen, die sich zuvor dem sozialen Verhalten in den großen Städten widmeten, thematisch der Provinz zugewandt, der Vergangenheit, der Lebenswelt der Eltern und Großeltern, der Erinnerung an die Kindheit. »Mother and Neighbours« ist Zhang Xiaos Bild der vier Frauen betitelt, denn in der Serie »Shift« »rekonstruiert« er Szenen aus dem Apfelanbaugebiet, in dem er aufwuchs. Ein alter Laster mit seinen Obstkisten ist ebenfalls aufwändig aus Polaroid-Quadraten komponiert – in archaischem SchwarzWeiß, malerisch in delikaten Entwicklungsprozessen überarbeitet. In der digitalen Ära pflegen einige der Künstler gerade ein kunstvolles Spiel mit alten analogen Fototechniken, arbeiten mit der ganzen Bandbreite fotokünstlerischer Verfahren. Jiang Pengyi, das dritte eingangs genannte Beispiel, hat mit seinen Gespinsten das Konzept vom Foto als Abbildung und vom Format der Bildfläche verlassen. Der Experimentator greift interessanterweise in seiner Serie »Everything Illuminates« (2012) einen Gründungsmythos des Mediums auf – Fotografie als »Zeichenstift der Natur«, da das Licht selbst das Bild erzeugt –, wenn er die Dinge, zum Beispiel eine Matratze, mit einer Flüssigkeit aus Wachs und fluoreszierendem Puder überzieht, so dass dieses Leuchten, ohne Kamera und Auslöser, sich auf dem Film einschreibt. Mit 20 Jahren war Jiang Pengyi erster Preisträger des 2008 etablierten jährlichen Three Shadows Photography Award. Mit dem wurden auch 2010 Zhang Xiao und 2018 Chen Ronghui ausgezeichnet, ebenfalls 2009 Adou, der sich selbst nackt in Landschaften einer elementaren Natur inszenierte und mit alten, abgelaufene Filmen Tonalität erzeugt, sowie 2017 der mythologische Figuren interpretierende Gao Mingxi und Liang Xiu, die erst ein Jahr zuvor zu fotografieren begonnen hatte. Mit intensiven Motiven ihrer Serie »Fringe of Society«, die soziale Rollen und sexuelle Orientierung in den Blick nimmt, ist die 1994 Geborene als jüngste in der Ausstellung vertreten und (neben inri) einzige Frau.
Ältester Teilnehmer ist der 1968 geborenene RongRong, und das älteste Bild der Ausstellung (1994) entstammt dem Kontext einer Durational Performance im East Village Beijing, einem Künstlerviertel. Dort lebten auch RongRong und seine japanische Kunstund Lebenspartnerin inri. Sie gründeten 2007 das Three Shadows Photography Art Centre, die erste unabhängige Foto-Institution in China, eine Plattform zur Förderung junger Künstler und um die chinesische Fotokunst einem internationalen Publikum bekanntzumachen. »Fotografie ist das dritte Auge«, erklären RongRong und inri in einer Online-Schaltung der Alexander Tutsek-Stiftung, »um eine neue Welt zu entdecken und mit der Kamera zu beschreiben«. Und um Abschied zu nehmen, könnte man ergänzen. Beide haben mit ihrem fotografischen Œuvre ihre Lebenserfahrungen poetisch dokumentiert: auch den Abriss des Künstlerviertels. Noch einmal liegen sie nackt aneinander geschmiegt im ehemaligen Schlafzimmer, sitzen mit Blumen in den Händen im zerstörten Haus. ||
ABOUT US. JUNGE FOTOGRAFIE AUS CHINA
Alexander Tutsek-Stiftung | Karl-Theodor-Str. 27 | bis 29. Januar | Di–Fr 14–18 Uhr | Informationen: 089 55273060
Unsere aktuelle Ausgabe:
Verkaufsstellen
Online-Kiosk
ikiosk.de
Sie bekommen die aktuelle Ausgabe gratis zu jeder Bestellung bei den folgenden Buchhandlungen.
Das könnte Sie auch interessieren:
»Bilder des Menschen« im Kallmann Museum
Marinella Senatore in der Villa Stuck
»Mitte/Rechts«: Autor Thomas Biebricher im Interview
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton