Der Neustart von Andreas Beck am Residenztheater wurde durch Corona ausgebremst. Da war es ein Glück, dass man eine Reihe von Soloabenden in petto hatte. Doch wie geht’s weiter?
Residenztheater: Erste Hilfe gegen Theaterhunger
Ein großes Bühnenbild gab es noch vor der Sommerpause. Thilo Reuther hat es ins Residenztheater hineingebaut und Sebastian Baumgarten hat weit mehr als die derzeit übliche Handvoll Schauspieler darin losgelassen. Ganze 13 von ihnen verströmten satte zweieinhalb Stunden lang echten Bühnenschweiß und (natürlich sorgsam kanalisierte) Aerosole. Die ursprünglich für Mai anberaumte Premiere von Büchners »Dantons Tod« wird voraussichtlich erst im Frühjahr 2021 nachgeholt. Was die Theaterleitung ihrem ausgehungerten Publikum zum Saisonende schenkte, waren zwei Voraufführungen – nicht zur Rezension freigegeben, aber eigentlich schon fertig, sieht man einmal von der Möglichkeit ab, dass bis zur Premiere im Residenztheater wieder ganz andere Abstands- und Hygieneregeln gelten könnten – und vermutlich noch die ein oder andere Feinjustierung und Politur erfolgt.
Es geht bekanntlich weniger um die Französische Revolution in Büchners Text als um die Konsequenzen, die die Umstürzler nach deren Erfolg aus der neuen Lage ziehen. Wir schreiben das Jahr 1794. Hier Danton, Camille Desmoulins und die pragmatischen Neuerer, dort Robespierre, Saint-Just und die Saubermänner von den Jakobinern, die das Recht wie die Wahrheit beugen und die Guillotine zum Besen umfunktionieren. Und man verrät wohl nicht zu viel, wenn man sagt, dass über die Fassade eines von lebenden Toten besetzten Hauses die Schatten ihrer Opfer tanzen, während hinter den Kulissen ein Roboterarm Blut rührt.
Auch um den Wert des Lebens und darum, was das Überleben einer Idee kosten darf, geht es an diesem Abend, für den bereits während des Corona-Shutdowns via Zoom geprobt wurde. Allein schon von seiner ungewohnten Bilderflut geflasht, fragt man sich danach auch, wann man je wieder Theater sehen kann ohne Corona-Schere im Kopf, ohne Dantons fehlenden Glauben daran, dass die Guillotine ihn treffen könnte, als Kommentar zur Pandemie zu lesen und ohne zusammenzuzucken bei jeder Situation, in der sich Schauspieler näher kommen.
Es ist über dem nun vollzogenen Abschied Matthias Lilienthals von den Kammerspielen fast untergegangen, dass auch eine erste Saison unter Corona-Bedingungen eine kleine Tragödie ist. Andreas Becks Auftaktspielzeit am Residenztheater geriet dadurch um ganze neun Premieren kürzer. Lydia Steiers Inszenierung von Franz Xaver Kroetz’»Der Drang« hätte am 12. März auf die Bühne sollen – einen Tag vorher kam das Aus für die Kultur. Lediglich Schorsch Kameruns Auseinandersetzung mit einer verunsicherten Metropole »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« kam danach noch in einer Hörspielversion und als Live-Film-Preview heraus. Und weil sich viele neue Mitglieder des (inklusive Gästen) 56-köpfigen Ensembles dadurch kaum oder gar nicht zeigen konnten, haben sich die Soli als Segen erwiesen, die sieben von ihnen bereits im Gepäck hatten. Bis auf Luana Velis’ »Fräulein Else« und Mareike Beykirchs »Androiden aus Mitteldeutschland« stammen alle aus Becks Baseler Zeit.
Und so erwies sich die schon vor Corona erfolgte Wiedereröffnung des Marstallcafés als Begegnungsstätte mit einzelnen Schauspielern in den letzten Wochen als Glück. Der wunderbare Vincent Glander, der in den »Drei Musketieren« zu Lachtränen reizt, stürzt sich da in Édouard Louis’ so schonungslose wie poetische Seelenbeichte »Das Ende von Eddy«, die auch Beykirch zu ihrem Biopic inspirierte. Glander entführt rund 20 Zuschauer 60 beklemmende Minuten lang in die Armut und geistige Enge der nordfranzösischen Provinz, springt von den brutalen Penetrationsfantasien des neunjährigen Jungen zu realen Sexspielen, von der Hilflosigkeit der Mutter zur Bosheit von Eddies Quälgeistern, vom großäugigen Blick des Kindes zum Selbsthass des Heranwachsenden, der einfach kein »echter Kerl« sein kann. Seine Partner sind ein Vorhang und der auf Video viele seiner Aktionen spiegelnde und weiterführende Tänzer Javier Rodriguez Cobos, der in Basel mit auf der Bühne stand.
Soloprojekte bieten die Gelegenheit oder zumindest die Illusion, den Neigungen und Idiosynkrasien von Schauspielern auf die Schliche zu kommen. Warum Barbara Horvát sich wohl auf Werner Schwabs »Abfall, Bergland, Cäsar« verlegt hat? Vielleicht einfach, weil sie es kann? Schwabs ureigener Mix aus intellektueller Geschmeidigkeit und Hang zum Derben hat sich auf den Bühnen zuletzt rargemacht. Horvath nimmt ihn locker und navigiert ungeheuer souverän durch diese »Menschensammlung«, die jeden Einzelnen »als projektiertes Paradigma« bei seinen Abortsitzungen und Sackschaukeleien beobachtet – und ihm drastische Tode in Jauchegruben und durch rostige Erbsendosendeckel beschert.
Zumindest auf diese Soli kann das Residenztheater zurückgreifen, falls im Herbst die gefürchtete »zweite Welle« kommt. Denn einen richtigen Plan B zum Ende Juni verabschiedeten Programm gibt es nicht. Vieles in der ersten Saison unvollendet Gebliebene ist in die zweite gerutscht. Ein bereits druckfertiger Spielplan wurde verworfen. Und doch fühlt man sich für alle Eventualitäten gerüstet: »Wir haben während der Schließungszeit und danach alles ausprobiert, was geht, und viel dazugelernt«, sagt die stellvertretende Intendantin Ingrid Trobitz. So wird künftig mehr im großen Haus stattfinden, wohin man aktuell schon Antonio Latellas »Musketiere« und Bastian Krafts »Lulu« verlegt hat.
Alexander Eisenachs erste Inszenierung in München, der ursprünglich für den Marstall geplante Abend »Einer gegen alle« nach Oskar Maria Graf, wird voraussichtlich am 9. Oktober im Resi Premiere feiern, während Miloš Lolić die Uraufführung von Thiemo Strutzenbergers »Der Preis des Menschen« zwei Tage später als geplant im Marstall herausbringt: »Da haben wir«, sagt Trobitz, »allerdings die Raumsituation verändert, um mehr Plätze anbieten zu können: Das Publikum wird auf der Bühnenfläche sitzen, gespielt wird auf der Tribüne. Außerdem planen wir, in der nächsten Saison mehr en suite zu spielen und am Wochenende zwei Vorstellungen hintereinander zu geben, um personalintensive Umbauten zu minimieren und trotz Abstandsregeln möglichst vielen Zuschauern einen Vorstellungsbesuch zu ermöglichen.«
24 Premieren stehen auf dem Plan – von neuen Namen wie Evgeny Titov und Michal Borczuch, Beck-Getreuen wie Claudia Bauer und Thom Luz und alten Münchner Bekannten wie Calixto Bieito und Georg Ringsgwandl. Und es scheint schon klar, dass Ulrich Rasche, der am 25. September mit Kleists »Das Erdbeben in Chili« die Spielzeit eröffnet, die Komplexität seiner berüchtigten Bühnenmaschinerien reduzieren muss. Corona inszeniert längst mit – und setzt die Themen. So grundiert die Frage, wie Menschen mit Erschütterungen umgehen, den Spielplan eher dunkel. Da ist der Krieg bei Graf, ein dem Wahnsinn verfallendes Dorf in Herbert Achternbuschs »Herz aus Glas«, mit dem Elsa-Sophie Jaich im März ihr München-Debüt feiert – oder Annie Ernaux’ Beitrag zur #Me-too-Debatte, den die italienische Regisseurin Silvia Costa auf die Bühne bringt. Hausregisseurin Nora Schlocker wird am 14. November »Der Kreis um die Sonne« von Roland Schimmelpfennig uraufführen: ein Auftragswerk über eine Gesellschaft, die aufgrund einer Pandemie zum Stillstand kommt. Hier – wie auch in Simon Stones Horváth-Fortschreibung »Unsere Zeit« – scheint es unserem Hier und Jetzt an den Kragen zu gehen, dem sich seinerseits die Verschiebung vieler Premieren ins Frühjahr verdankt. So kommt zum Beispiel Stefan Bachmanns bereits im Februar in Basel herausgekommene Inszenierung von Max Frischs »Graf Öderland« wohl erst im Mai nach München. Die Akteure rutschen darin durch einen engen Trichter. Da winkt jeder Hygiene-Sheriff ab. ||
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