Die traditionsreiche Tanzwerkstatt Europa kann nun live mit Workshops und Vorstellungen stattfinden.
Tanzwerkstatt Europa 2020: Öffnungsprozesse
Die Tanzplattform Deutschland war Anfang März die letzte große Veranstaltung mit internationalem Publikum, die in Bayern über die Bühne ging, ausgerichtet von Joint Adventures in München. Und die traditionsreiche Tanzwerkstatt Europa ist nun das erste Festival, das wieder mit live im Saal präsentem Publikum stattfinden kann. Am 28. Juli geht es los. »Wir hatten Glück«, meint Walter Heun, »läge der Termin zwei Wochen früher, hätten wir es nicht als Präsenz-Format machen können.« Als Festival wollte der Gründer und Leiter seinen zehntägigen Tanz-Hotspot übrigens nie verstanden wissen. Da verbindet sich ein internationaler Sommerkurs aus Workshops für Profis und Amateure mit einer festivalartigen Präsentation avancierter Produktionen plus Diskursangebot. Eine Mischung also aus Schweiß und Atem, Muskeln und geschärfter Wahrnehmung, dazu fordernde und begeisternde Vorstellungen, und gefeiert wird normalerweise auch.
Auf die vielen unsicheren Parameter und die ständige Veränderung der Genehmigungslage reagierte Joint Adventures mit einer Doppelstrategie: Die ganze Zeit über wurden zwei Tanzwerkstatt-Versionen geplant, eine analoge und eine digitale. So musste man den Künstlern nicht absagen. »Wir hätten auch alle Workshops im Programm, zur gleichen Uhrzeit, im Netz durchgeführt«, erklärt Walter Heun. »Und wir hätten in technisches Equipment investiert, denn die Stücke sollten nicht einfach nur abgefilmt als Video gestreamt werden. Die Künstler hatten wunderbare Ideen, wie sich das choreografische Denken, das in den Stücken steckt, digital in einer anderen Form realisieren lässt. Wim Vandekeybus, der ursprünglich dabei sein sollte, wollte mit einer 360-Grad-Kamera arbeiten, Yoann Bourgeois hätte sein »Fugue Trampoline« aus verschiedensten Kameraperspektiven inklusive Flugdrohne visualisiert. Eine solche digitale Tanzwerkstatt hätte ich auch reizvoll gefunden, weil sie zu einem intensiven Nachdenken zu Aspekten von »Liveness« und »Interaktion« in den performing arts führt.«
Andererseits wurde die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich alle Teilnehmer und das Publikum vor Ort in München zusammenfinden. »Wir waren zuversichtlich, dass sich die Öffnungsprozesse, die sich in anderen Ländern wie etwa Österreich abgezeichnet haben, auch bei uns realisieren.« Die Lockerungspolitik erlaubte zunächst 50 Zuschauer indoor und 100 im Außenraum. »Ich war mit anderen Vertretern verschiedener Kulturverbände mit Kulturminister Bernd Sibler im Gespräch, wobei sich weitere Lockerungen abzeichneten. Jetzt stehen wir bei 100 und 200, noch mit Abstandsregel von 1,5 Meter und Mund-Nasen-Schutz, vielleicht bewegt sich bis Ende Juli noch etwas. Aber wir können jetzt die Veranstaltung analog vor Ort planen.«
Die Workshops finden in der Tanztendenz, in der Muffathalle und diesmal auch in der Iwanson-Schule statt. »Die hatten ja auch Einnahmeausfälle, die wir durch die Anmietung ein wenig kompensieren helfen können«, erläutert Heun. Hier erlaubt die Abstandsregel jetzt immerhin 20 Beteiligte. Das ergibt deutlich weniger Einnahmen als früher bei 30 oder auch mal 40 Teilnehmern. Und es müssen organisatorische Vorkehrungen getroffen werden: Sicherheitsabstände auch beim Zutritt und Ausgang. Dementsprechend wird Charlie Morrissey dieses Jahr nicht Contact Improvisation unterrichten, sein Kurs »New Proximities and Imagined Others« setzt sich mit Distanz und Nähe auseinander.
Der Münchner Stephan Herwig zeigt noch einmal »Rhythm and Silence«. Mette Ingvartsen bringt ihr Solo »21 pornographies«, und in »Portrait of Frédéric Tavernini«, das auch auf dem Programm der Tanzbiennale in Venedig im Oktober steht, wird Choreograf Noé Soulier den Tänzer selbst am Klavier begleiten. Der erste Plan bei 50 erlaubten Zuschauern war, die Vorstellungen aufzuzeichnen und auf der Terrasse der Muffathalle zu screenen, deshalb wurden sie später am Tag angesetzt. »Jetzt gibt es in der Muffathalle bei 100 erlaubten Zuschauern – durch die Abstandsregel – doch nur 70 Plätze zu besetzen. In Österreich gilt im Zuschauerraum ein Mindestabstand von einem Meter, ohne Schutzmaske, schachbrettartig versetzt, also jeder zweite Stuhl und die Reihe dahinter gegengleich besetzt: So erhöht sich die Kapazität auf 50 Prozent der normalen Bestuhlung. Und es hat sich bislang in Theatern, laut Auskunft des Ministeriums, noch niemand infiziert. Natürlich muss man verantwortlich mit der Sicherheit von Zuschauer*innen und Beteiligten umgehen.«
In der Tat sind die aktuellen Bestimmungen nicht ohne Widersprüche: In den Kammerspielen verlieren sich Ende Juni 100 Zuschauer mit Mundschutz im Parkett mit den ausgebauten Stuhlreihen und auf dem Balkon, während die Leute, ohne Mundschutz, vor und nach der Vorstellung draußen in 10erGruppen auf engstem Raum sich zuprosten und anschreien dürfen oder vor einer Bar sich mit ihren Drinks auf dem Gehsteig drängen wilder als auf der Wiesn. Es waren bei der Planung von Anfang an auch Open-AirVorstellungen vorgesehen. Etwa ein Symposion mit Picknick und Performances (mit Sitzdecken als Abstandshalter und selbst mitgebrachten Speisen), das im Jardin d’Institut Français stattfindet. Der öffentliche Parcours »Shadowpieces« von Cindy van Acker ist jetzt indoor in einer großen Halle geplant, könnte aber auch im Außenraum stattfinden. »Es gibt noch offene Fragen, aber wir können alle Programmpunkte realisieren«, erklärt Heun. »Weil jede neue Verordnung auch Veränderungen der möglichen Kartenkontingente nach sich zieht, warten wir noch mit dem Ticketverkauf: Es gibt eine Online-Reservierung, wir brauchen die Kontaktdaten der Besucher*innen für eventuelle Infektionsnachverfolgung. Die Beginnzeiten und Orte stehen eigentlich fest, aber falls sich etwas ändert, müssten wir das dann noch kurzfristig kommunizieren.« ||
TANZWERKSTATT EUROPA
Verschiedene Spielorte | 28. Juli – 7. August | Informationen zu den Workshops und Vorstellungsterminen
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