Ein Gespräch mit den Hier=Jetzt-Initiatorinnen über die Probleme des jungen zeitgenössischen Tanzes, Tänzertourismus und dunkle Bilder bei der ersten Online-Präsentation ihrer Plattform-Ergebnisse.
Hier=Jetzt: Nicht ohne outer eye
Birgitta Trommler und Johanna Richter, Sie haben 2016 die Plattform Hier=Jetzt ins Leben gerufen, um dem jungen zeitgenössischen Tanz in München mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Was hat sich seither getan?
JR: Angefangen haben wir nur mit dem Angebot an freie Choreograf*innen, eine Woche lang die Räume des Schwere Reiter zu nutzen und sich mit kleinen Vorstellungen zu zeigen. Darauf gab es gleich im ersten Jahr einenunfassbaren Run, weil in München viele Künstler*innen arbeiten, die keine Förderung und kein Budget haben und so nie ihre Ideenverwirklichen können.
BT: Wir haben von Anfang an die Erfahrung gemacht, dass die Qualität der Tänzer*innen gut ist, sie aber von den hier arbeitenden Choreograf*innen nicht gesehen werden. Das ärgert uns eigentlich am meisten. Denn wie soll der Tanz in München eine Zukunft haben, wenn man nur Tänzer-Tourismus unterstützt und Tänzer*innen einfliegt. Das ist nicht nachhaltig. Wir wissen ja selber, weil wir schon länger in dem Business sind, dass sich ohne kontinuierliches Arbeiten künstlerisch nichts entwickelt.
JR: Und genau diese Entwicklungen haben wir über die Jahre gesehen. Einzelne Künstler*innen haben wir jetzt zum fünften Mal erlebt mit immer weiter sich konkretisierenden Arbeiten. Sie konnten eben durch diese Kontinuität einen künstlerischen Stil entwickeln und erste abendfüllende Produktionen machen. Und in den letzten beiden Jahren ist auch das überregionale Interesse an der Plattform gestiegen. Mittlerweile kommen auch Leute aus Berlin und sogar aus Tel Aviv. Das gibt den Münchner Tänzer*innen ein neues Netzwerk.
Gab es im letzten Jahr bei Hier=Jetzt noch viele Gruppenstücke und vier rege besuchte Vorstellungsabende mit insgesamt 44 Arbeiten, gibt es diesmal nur 13 kurze Tanzvideos im Internet – die meisten davon Soli. Wie geht es Ihnen damit?
BT: Wir mussten die Plattform natürlich sehr viel kleiner machen. Viele Leute konnten nicht anreisen, Gruppenstücke gingen nicht, Solisten waren plötzlich ohne Partner. Aber dass wir kein Publikum hatten, war zugleich traurig und gut, weil wir dafür umso intensiver mit den Künstler*innen arbeiten konnten. Das war eine richtige kleine ChoreografieWerkstatt diesmal.
JR: Wir haben von der ersten Ausgabe der Plattform an alle Teilnehmer*innen mit einem Video und professionellen Fotos ausgestattet, mit denen sie sich deutlich besser für eine Förderung bewerben konnten als mit selbstgemachten Handy-Videos. Diesmal haben wir aber nicht nur Mitschnitte gemacht, sondern mit zwei Kameras, verschiedenen Schnitten und Winkeln die Arbeiten noch einmal ganz anders betrachten können. Wir sind den Tänzer*innen auch viel dichter auf die Pelle gerückt, weil uns wichtig war, dass – wenn es schon kein Live-Erlebnis gibt – das digitale Publikum möglichst viel von dem zu sehen bekommt, was die Choreograf*innen gemeint haben.
Seit dem 4. Mai wird jeden zweiten Tag ein neues Video online gestellt. Am Ende werden alle Videos bis Ende Juni zu sehen sein. Das ist ein beachtliches neues Schaufenster.
BT: Genau, Und wir hoffen auch immer noch, dass die Kinos wieder öffnen und wir alle Aufzeichnungen bei einem Tanztag zeigen können. Einer der Leiter vom Monopol ist da offen. Oder – das wäre noch schöner – die Theater machen auf und wir laden alle Künstler*innen ein, ihre Sachen zu zeigen. Denn die sind ja komplett vorbereitet, eingeleuchtet und alles.
À propos »eingeleuchtet«: Die ersten fünf Filme sind alle extrem dunkel. Ist das die gerade vorherrschende Stimmung bei den Tänzern oder ist Ihnen das Licht ausgegangen?
JR: Wir hatten tatsächlich weniger technische Ausstattung als sonst. Aber es war auch eine klare künstlerische Entscheidung der Leute, wie ihr Stück wirken soll. Und der Tenor war in diesem Jahr eher dunkel. Das muss man sagen.
Wenn schon die Dunkelheit zum Moment passt: In »Shadab« befreit sich der Tänzer Andrea Scarfi aus einem engen Stahlkantenwürfel, sein Körper schnellt aber immer wieder in die vorige Kompaktheit zurück. Ist das ein tänzerischer Kommentar zu den Corona-Beschränkungen und Lockerungen oder habe ich da eine Brille auf?
JR: Er hat das Stück kreiert, ohne konkret daran zu denken, hat aber später erkannt, dass diese Bilder als Erfahrungen der Corona-Zeit lesbar sind.
BT: Wir haben beide gesagt, dass das Stück uns sehr an Kafka erinnert. Als ich Andrea zufällig kurz darauf am Starnberger See getroffen habe, hat er erzählt, dass er sich sofort alle Bücher von Kafka bestellt hat. Er war sich vorher – ohne outer eye – gar nicht seiner Wirkung bewusst.
Unter den ersten Kurzstücken sind nur zwei Duette. Wie sind Sie mit den Abstandsgeboten umgegangen?
JR: Das erste Duett – »ZandLopers« – sollte ursprünglich ein Solo werden, aber die Choreografin Georgia Rowan hatte nach wochenlanger Isolation alleine im Studio eine Art Krise. Also kam die Tänzerin Charlotte Lahn, mit der sie den Lockdown verbracht hatte, dazu. Wenn Tänzer*innen gemeinsam auf der Bühne sind, die nicht ohnehin zusammenleben, haben wir auf den Mindestabstand geachtet. Und dann gab es noch ein echtes Zufallsprodukt: Das Stück, das wir als vorletztes ins Netz stellen, war als Trio geplant. Wegen der Hygieneverordnungen hat die Choreografin aber entschieden, dass sie lieber drei Soli unabhängig voneinander proben will. Und daraus ist jetzt ein richtiger Tanzfilm geworden, in dem die Soli miteinander verschnitten wurden und die beiden künstlerischen Sprachen Video (Tim Bergmann) und Choreografie (Sonja Christl) ineinandergreifen. Das ist aus der Not entstanden, sieht aber spektakulär aus.
BT: Das war eine wirklich abenteuerliche Erfahrung, die mal wieder zeigt, dass mit wenigen Mitteln und großer Intensität alles geht. Das fehlt mir sonst zu oft in dieser Stadt. ||
HIER=JETZT 2020 | Die Videos sind noch bis Ende Juni zu sehen auf schwerereiter.de, tanztendenz.de, vimeo.com/hieristjetzt und auf der Facebook-Seite der Plattform
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