Das Kunstfoyer der Versicherungskammer zeigt eine großartige Retrospektive des Lindauer Lichtbildners Toni Schneiders.
Toni Schneiders: Fotografische Kammermusik
Drei Scheiben Brot. Die Poren, die Rinde, das Rund der Holzschale, vom Licht herausgehoben aus dem Dunkel des Tisches. 1970 hat Toni Schneiders dieses gleichsam zeitlose Bild komponiert, bei dem man sich an die formale Komposition der Industriefotografie seit den 1920er Jahren oder an Ideale der einfachen Dinge ab 1930 erinnert fühlen könnte. Zugleich ein typisches Schneiders-Foto, das den Geist der Nachkriegsmoderne atmet. Die hat Schneiders mit seinen feinsinnigen Aufnahmen mitgeprägt, als Mitbegründer der avantgardistischen Arbeitsgemeinschaft fotoform, 1949 zusammen mit Peter Keetman, Siegfried Lauterwasser, Wolfgang Reisewitz, Otto Steinert und Ludwig Windstoßer. Die suchte »eine neue Richtung in der Fotografie«, die die Wirklichkeit mit kühnen Perspektivierungen und radikalen Bildausschnitten, mit Abstraktion und Experiment frei in den Blick nehmen und eine formal perfekte Bildgestaltung realisieren wollte. Unterschiedliche Temperamente, aber doch mit einer klaren, grafischen Ästhetik – die auf der Photo- und Kino-Ausstellung (später: photokina) 1950 in Köln sogleich Aufsehen erregte. Die Gruppe fotoform pflegte eine eigene Ausstellungsgestaltung, sogar mit einer eigenen Typografie ihrer Präsentationen. Sollte ein Bild in der und für die Gruppe ausgestellt werden, brauchte es die Zustimmung der Kollegen, die auf der Rückseite des Abzugs gegenzeichneten – oder ihre Ablehnung und Kritik formulierten. »Subjektive Fotografie«, so die programmatische Formulierung Otto Steinerts (und Titel der legendären Ausstellung), ist der zweite wichtige Aspekt für die Anfänge von Toni Schneiders. Auf einer schwarzen Wand in der Ausstellung sind Beispiele dieser fotoform-Pionierzeit versammelt.
291 Fotos haben Sebastian Lux und Franziska Mecklenburg von der Stiftung F.C. Gundlach aus dem Archiv von Toni Schneiders ausgewählt und mit Bücher- und Zeitschriftenbelegen zu einer ausnehmend schönen Ausstellung komponiert. Die zeigt, dass Schneiders zu den Großen der Fotogeschichte zählt, wie sie das Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung seit mittlerweile 15 Jahren präsentiert, von Henri Cartier-Bresson bis Sebastião Salgado, darunter auch Retrospektiven von Schneiders’ Freunden Heinz Hajek-Halke, ebenfalls Fotoform-Mitglied, und Peter Keetman, dessen Nachlassarchiv ebenso wie das von Schneiders die Stiftung F.C. Gundlach betreut. Schneiders’ Lebenswerk ist hier in Arbeitszusammenhängen und Entwicklungslinien dargestellt, wobei die Gruppierung der Bilder seine prägnante Bildsprache verdeutlicht. Und was man beim ersten Blick übersieht, die faszinierenden Fotos sind auch schön und, statt kostensparend uniform, passend gerahmt: die abstrakten Motive – wie amorphe Formen, Wassertropfen, Eis-Strukturen, Lichtspuren, Schatten, Spiegelungen – in silbernen Alurahmen, Reisebilder aus Skandinavien in hell geschlämmten Holzrahmen, Aufnahmen aus Afrika in afrikanischem Holz. Schneiders ist nicht nur ein Meister grafischer Strukturen und feinster Graustufen, sondern zugleich ein einfühlsamer Porträtist in der Begegnung mit Menschen und Situationen. Die Melancholie der »Wartenden Frau« hinter dem regennassen Fenster im Bahnhof Ingolstadt, die gebeugte Wasserträgerin in Äthiopien, die Hingabe beim Zeitunglesen und die gefährliche Tätigkeit der die glühenden Metallbänder greifenden Arbeiter im Stahlwalzwerk schildert er ebenso kunstvoll-präzise wie er sein Leben lang die Zeichenschrift und Metamorphosen der Natur und die Formen von Landschaft in Bilder bannt. Solche stilprägenden Bilder wurden seinerzeit weitgehend nicht als Kunstwerke eingeschätzt; es gab auch keine Museen, keine Sammler, keinen Kunstmarkt für freie Fotografie. Schneiders fertigte seine »Werke« im Rahmen der Fotografie als Brotberuf.
1938 hatte er die Fotolehre in Koblenz mit der Meisterprüfung abgeschlossen, war als Kriegsberichterstatter bei der Luftwaffe (damals schon begleitete ihn seine Leica-Kamera), 1945 freischaffend in Koblenz tätig. 1946 eröffnete er ein Fotostudio in Meersburg, wechselte nach Hamburg, wo er für große Firmen wie Reemtsma und Shell Werbekampagnen fotografierte, was ihm aber nicht zusagte. Dann eröffnete in Lindau die Spielbank – und Schneiders 1952 sein Atelier am geliebten Bodensee. Lindau war auch das Thema seines ersten Foto-Bildbandes, 1950, eines Städteporträts im Lindauer Jan Thorbecke Verlag, dem sich weitere zu Meersburg, Ravensburg, Augsburg anschlossen und viele weitere Porträts von Städten (von Ansbach über Berlin und Wien bis Würzburg), Ländern (von Äthiopien bis Schweden) und Landschaften (vom Allgäu über den Archipelagus der griechischen Inseln bis zum Schwarzwald), allein dem Bodensee widmeten sich mehrere Bände. Er fotografierte für Zeitschriften wie »Merian« und seine Aufträge führten ihn bis nach Japan und Südostasien. Als Bildjournalist arbeitete er mit einer Leica sowie einer Mittelformatkamera und schleppte – trotz eines inoperablen Lungensteckschusses im Leib – auch die 12 Kilo einer großen Linhoff-Kamera mit Balgenauszug durch die Landschaft. Schneiders sah und komponierte Schönheit, bei allem formalen Gestaltungswillen ist sein Wirklichkeitsbezug geprägt von Achtsamkeit, Humor und menschlicher Anteilnahme und, so charakterisierte ihn Freund Keetman, »wenn er etwas ergreift und beginnt, so entsteht daraus – schlicht gesagt – photographische Kammermusik«. ||
SCHAUT HER! TONI SCHNEIDERS. RETROSPEKTIVE.
Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung
Maximilianstr. 53 | bis 27. September | täglich 9–19 Uhr | Eintrittfrei | Mund-Nasenschutz-Pflicht und Mindestabstandsregeln, bis 37 Besucher gleichzeitig in den Räumlichkeiten | Der schöne und informative Katalog (Steidl verlag, 256 Seiten, 260 Abb.) kostet
48 Euro
Unsere aktuelle Ausgabe:
Verkaufsstellen
Online-Kiosk
ikiosk.de
Sie erhalten die aktuelle Ausgabe gratis zu jeder Bestellung bei den folgenden Buchhändlern.
Das könnte Sie auch interessieren:
Podcasts im Oktober: Vier hörenswerte Tipps
Theater für Kinder und Jugendliche: »Rampenlichter« & »Kuckuck«
Walk the Line: Sonderausstellungen in der Pinakothek der Moderne
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton