Eine Graphic Novel porträtiert Emmy Ball-Hennings als Heldin der Avantgarde.
Dada über alles
»Ich werde Banken ausrauben und Gedichte darüber schreiben.« So cool stellt sich die 16-jährige Emma Maria Cordsen aus Flensburg – bei der Beerdigung ihres Vaters – ihre Zukunft vor. Sie bricht dann aus, in die Welt des Theaters und Tingeltangels: mit dem ersten Mann Joseph Paul Hennings. Nach der Scheidung und der Geburt der Tochter Annemarie (die bleibt, wie schon das erste Kind, bei den Großeltern) zieht sie mit dem nächsten Liebhaber durch die Lande, bis sie 1909 im »Neopathetischen Cabaret« des Neuen Clubs im Kreis der damals radikalsten Avantgardisten in Berlin landet. Um dann selbst eine Protagonistin der Moderne zu werden, als Mitbegründerin der dadaistischen Bewegung. Zwei Spanier haben 2017 Emmy Ball-Hennings in einer Graphic Novel verewigt, der Autor Fernando González Viñas zusammen mit dem Illustrator José Lázaro. Die deutsche Ausgabe im avant-verlag erschien nun in Kooperation mit der im Februar eröffneten Ausstellung »Emmy Hennings – Jahrhundertfrau der Avantgarde« in der Hugo-Ball-Stadt Pirmasens.
Ball-Hennings – Erfinderin von Dada?
»Alles ist Dada«, so ist das Buch betitelt (im spanischen Original: »Der Dada-Engel«), damit wird Emmy Ball-Hennings als Mitgründerin des Cabaret Voltaire 1916 in Zürich und damit des Dadaismus gefeiert. Denn das sei »ihr zu verdanken«, lassen die Autoren ihre Emmy sprechen, oder »ohne mich seid ihr niemand«, bezogen auf all die Künstler, die sie als Muse, Modell, Geliebte inspiriert oder als Künstlerin und Lebenspartnerin – so im Fall Hugo Ball von 1915 bis zu seinem Tod – begleitet hat. Wer Dada und die Dadaisten (neu) kennenlernen möchte, kommt um diese Frau nicht herum, so die Botschaft. Auf Seite 28, im ersten Kapitel ihrer Initiation in die Kunst, schwebt die Erzählerin Emmy als Engel vor die auf dem Sofa versammelte heutige Leserschaft, um deren Erwartung auf das Künstler-Idol, den »Vorreiter der Antikunst«, nämlich Hugo Ball, zu brechen. Solch ironisches Spiel manifestiert sich schon auf dem Einband, wo der coole Engel Emmy Ball als Handpuppe präsentiert: in seinem legendären kubistischen Kostüm zum Vortrag seiner Lautgedichte. Diesen Kasperle hat es natürlich nicht gegeben, Vorlage ist ein Foto, das Hennings mit einer (anderen) Dada-Stoffpuppe zeigt.
Der Begriff Dada und seine (erstmalige) Verwendung ist von den Beteiligten später auf diese und jene Weise reklamiert worden. Hier erfahren wir, dass Hugo Ball am 18. April 1916 in seinem Tagebuch zum ersten Mal das Wort Dada notiert (und erfahren nicht, dass es als Titel einer Zeitschrift geplant war und in diesem Sinne in einem Text Balls am 31. Mai erstmals gedruckt wurde: in der Anthologie »Cabaret Voltaire«). Hier erfahren wir die Version Emmys als erster Verwenderin im familiären Privatsprachgebrauch: »Sie lügen alle. Ich habe es Ball vorgeschlagen.« Und: »Das habe ich bereits in meinem Manuskript Rebellen und Bekenner‹ erklärt. Warum wird es also von keinem Kunsthistoriker berücksichtigt? Vielleicht weil ich eine Frau bin.«
Autor González Viñas kennt sich also aus, er ist promovierter Historiker und hat Texte von Ball und Hennings ins Spanische übersetzt. Und präsentiert hier eine schöne, komprimierte Einführung für Leser*innen, die mit dem Thema nicht vertraut sind. Dass er dabei die Geschichtsschreibung (deren prominente Momente er ansonsten kompilierend nacherzählt) auch korrigieren möchte, hätte es nicht gebraucht: das oben genannte »Rebellen«-Typoskript wurde 1984–1995 gedruckt; Bärbel Reetz (2001, 2015) und Nicola Behrmann (2017) haben zuletzt eingehende und äußerst lesenwerte Biographien vorgelegt. Seinerseits stecken in dieser Graphic Novel diverse historische Fehler: Nicht erst 1914, sondern schon 1913 lernte Hugo Ball Emmy als Diseuse in der Münchner Künstlerkneipe Simplicissimus kennen; Sophie Täuber machte 1916 keine Marionetten (das tat sie erst 1918), sondern war bei den Dada-Events als Tänzerin aktiv. Zusätzlich erlaubt sich der Autor – und das ist auch erlaubt! – legendarisch-fiktive Momente einzuweben: Die zwei Begegnungen mit Lenin in Zürich etwa sind Fiktion.
Ball-Hennings, die Dichterin im Schreibmaschinengeschäft
Vielleicht weil sie Männer sind, fokussiert das Autorenduo seine Heldin als spezielle Frau unter Männern. So lernen die Leser*innen eine Menge Künstler-Männer (und wenige Frauen) kennen, die sie dann nachschlagen können: vom morphiumsüchtigen John Höxter und dem Ätherspezialisten und Emmy-Liebhaber Ferdinand Hardekopf, der ihr den Füller schenkt, mit dem sie ihr erstes Gedicht schreibt, über Frank Wedekind bis zu Hermann Hesse, mit dem sich Ball und Hennings 1920 im Tessin eng befreunden. Gespielt wird in diesem quasidokumentarischen Ansatz eher mit den großen Namen. In der Münchner Zeit sind das Kandinsky und Marc; Balls und Hennings’ Münchner Verleger H.F.S. Bachmair kommt nicht vor. Und sehr viele Dadaisten – weltweit – treten an, obwohl doch Ball und Hennings sich schon 1916/1917 vom Dadaismus verabschieden. Sie verlassen Zürich endgültig und heiraten 1920.
Das eigene Schaffen von Emmy Ball-Hennings (1885–1948) dagegen hätte man ausführlicher behandeln können. Und atmosphärisch macht nur eine Seite nebst einem Bildchen – »Ist das der letzte Apfel?« – deutlich, in welcher Armut Hennings, Tochter Annemarie und Ball lebten: Sie mussten ihre Kleidungsstücke beim Trödler verkaufen, konnten das Porto zum Versand oder zum Empfang von Paketchen nicht aufbringen, sich weder eine – teure – Schreibmaschine noch einen Regenschirm leisten. Emmy zum Beispiel tippte ihre Gedichte in einem Schreibmaschinenverkaufsgeschäft ab, bastelte daraus verzierte Papierheftchen und verkaufte sie im Biergarten, um sich den Luxus eines Wachstuchhuts gegen den Regen zu gönnen. Wie der Text arbeiten auch die Schwarz-Weiß-Zeichnungen Lázaros mit allerlei inszenatorischen Tricks, etwa prominenten Bildzitaten aus der Kunstgeschichte und dem Aufgreifen historischer Fotovorlagen. Gut gelungen ist das Spiel der Augen, die Inszenierung von Gesichtern und Gesten. Grafisches Leitmotiv ist der glühend-melancholische Blick dieser ungewöhnlichen Frau mit dem Pagenkopf. Wenn man weiß, wie zärtlich, in Winzigkeiten der Welt (und ins große Ganze) verliebt oft ihre Briefe klingen, fällt auf, dass kaum ein Lächeln, keine Regungen der Freude gezeigt werden. Und wie man Balls asketischen Mystizismus und den Glauben der 1911 in München zum Katholizismus konvertierten Hennings – woran schon die Zeitgenossen Anstoß nahmen – verstehen könnte, dafür haben González Viñas und Lázaro letztlich nur das Bild des Engels gefunden. ||
FERNANDO GONZÁLEZ VIÑAS & JOSÉ LÁZARO: ALLES IST DADA. EMMY BALL-HENNINGS
avant-verlag, 2020
228 Seiten
25 Euro
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