Der coronabedingte Shutdown trifft freie Künstler besonders hart, weil sie ökonomisch meist ohnehin schon am Limit operieren. Warum also nicht von ihnen lernen, wie das geht? Eine Serie: Numero 1 – Die Spurensucherin Judith Hummel.
Etwas Krise ist immer
Man hört es ihr zwar nicht mehr an, aber die Absage ihrer für Ende März geplanten Installation hat Judith Hummel den Boden unter den Füßen weggezogen. Für mindestens eine Woche. Der Abend mit dem Titel »Wo komme ich her?« hätte im Köşk stattfinden sollen: vor maximal 50 Leuten an jedem der vier Tage, die statt eines Eintrittspreises eine Spende hinterlassen. Ein ökonomisches Erfolgskonzept sieht anders aus. Doch die Münchner Performerin und Choreografin liebt niederschwellige Angebote und Räume, »in denen man einfach sein darf«. Und ihre neue Arbeit ist ein Herzensprojekt. Ihr liegt eine Wanderung zugrunde, die Hummel zusammen mit ihrer Mutter Margret und der Kamerafrau Laura Kansy im Juni 2019 auf den Spuren ihrer Großmutter unternahm, die 1944 aus Rumänien nach Deutschland flüchtete. Ebenfalls zu Fuß.
Es geht um Herkunft in diesem auf drei Teile — und Wanderetappen — angelegten Vorhaben, um Erinnerung und Körper. Zu sehen gegeben hätte es Filmbilder von Feldwegen zwischen Sacalaz in Rumänien und Szeged in Ungarn, wo die drei immer wieder ihre rote Picknick-Decke ausgebreitet haben. Das erste Mal, erinnert sich Hummel, in einem vollständig grünen Raum nahe der serbischen Grenze.
Die Corona-Krise, sagt Judith Hummel, »macht sicher gerade Vieles kaputt, manches aber auch nur deutlicher. Zum Beispiel, wie zerbrechlich so eine Künstlerexistenz ohnehin schon ist.«
Solche Marker sind zentral für ihre Arbeit als Choreografin, die 2014 mit »AKT tracing, remembering, finding poses from Venus, Olympia and us« begann – einer hochkonzentrierten und kunsttheoretisch versierten Wanderung mittels Akt-Posen durch die Kulturgeschichte. Marker wie der nackte Körper, die rote Decke – oder der Futtermaissack, mit dem Mutter und Tochter im Köşk auch live hätten »umgehen« wollen. Nicht unbedingt das, was man gemeinhin unter Tanz versteht. Judith Hummel schon. »Der Umgang mit Dingen hat für mich etwas Choreografisches«, die »Zeitlichkeit« von Abläufen wie das Verteilen von Mais, »der die Felder symbolisiert, durch die wir gegangen sind und der eine der Lebensgrundlagen meiner Großeltern ausgemacht hat«, das Reiben von Ziegelsteinen, um das »Paprikapulver« zu gewinnen, mit dem die Großmutter als Kind in ihrem Kaufladen spielte. Sie legen Spuren in die Vergangenheit wie die Porträtfotos, für die Mutter und Tochter täglich fünf Minuten still in die Kamera geschaut haben. »Die stimmen für mich sehr«, sagt die Choreografin, »weil sie verschiedene Seinszustände wiedergeben. Das ist für mich auch Choreografie: Bewegung in einem Menschen zu zeigen. Wie meine Mutter, die sonst immer Lippenstift hat, ihn irgendwann nicht mehr aufträgt und sich immer mehr einlässt: auf das künstlerische Projekt, den ungeschönten Moment.« Da weiß sie jetzt schon, dass sie das gerne weiterführen möchte – und gibt damit gleich auch die Antwort auf die vorab selbst gestellte Frage: »Warum mache ich das eigentlich?«
Weil ihr innerer Motor brummt. Diese Wendung erinnert Hummel an ein Interview mit Nigel Butcher, dem Mann der britischen Choreografin Rosemary Butcher, in deren letztem Stück sie getanzt und über die sie 2018 ein Buch veröffentlicht hat. Und dieser Motor gibt ja nicht nur deshalb Ruhe, weil jetzt eine Pandemie die Ausübung der eigenen Kunst unmöglich macht. Oder weil diese Kunst auch vorher schon hinten und vorne nicht zum wirtschaftlichen Überleben reichte. Für Teil eins der Migrations-Trilogie hat Judith Hummel die Projektförderung der Stadt München bekommen: 42 426 Euro (bei 14 Beteiligten). Für Teil zwei wieder nichts mehr. Solche stillen, zwischen den Stühlen Tanz, Performance und Bildende Kunst sitzenden Arbeiten haben es schwer. Sie versprechen keine Sensationen – und man weiß nicht so recht, wohin mit ihnen. Auch das noch immer spartenfixierte städtische Fördermodell weiß das nicht. Die Corona-Krise, sagt Judith Hummel, »macht sicher gerade Vieles kaputt, manches aber auch nur deutlicher. Zum Beispiel, wie zerbrechlich so eine Künstlerexistenz ohnehin schon ist.«
Judith Hummel lässt reifen
Nach 2016, als Vielen, in deren Stücken Judith Hummel getanzt und performt hat, die städtische Unterstützung wegbrach, hat sie sich zum ersten Mal anstellen lassen: in einer Buchhandlung, später an einer Schauspielschule. Ein Unfall machte ihr ihre Verletzlichkeit deutlich und die Tatsache, dass das Alter (Hummel ist 1982 geboren) im Tanz ein Faktor ist. Um dem Körper auf andere Weise »treu und verbunden zu bleiben«, begann sie eine Ausbildung zur Shiatsu-Praktikerin.
Ihren Halbtagsjob hat sie Anfang März gekündigt – für ihre bald darauf gecancelte Performance-Installation. In ihrer Ausbildung hängt sie gerade fest: »Man muss zwischen Stufe fünf und sechs 75 Behandlungen sammeln.« In diesen berührungslosen Zeiten geht das schlecht. Auch der von ihr veranstaltete Dance Improvisation Workshop mit Kirstie Simson im Juni kann vielleicht nicht stattfinden (siehe hier). Und doch läuft Judith Hummels Motor weiter. Auf ruhige, unaufgeregte Art arbeitet es in ihr: Wie kann sie das gecancelte Projekt gegebenenfalls an den ganz anderen Raum des Schwere Reiter anpassen? Und auch die Route durch Ungarn für Teil zwei hat sie bereits zu planen begonnen. Für den Herbst, wenn sie ihre 65-jährige Mutter und ihre 90-jährige, immer mitfiebernde Oma hoffentlich wieder sehen darf. Das Konzept, auf dessen Basis sie zumindest von der Kulturstiftung der Stadtsparkasse eine kleine Summe bekommen hat, muss dafür umgeschrieben werden. Und auch wenn am Ende vielleicht nur eine Art Lesung möglich sein wird: »Der Gedanke, dass ich den Weg gehen will, ist sehr klar.« Mit all den Ritualen wie dem täglichen Tagebuchschreiben, das sie in der Corona-Isolation gerade mit ihrer Kamerafrau weiterführt. Sie und ihre Tänzerkollegin Naïma Ferré schicken sich regelmäßig Dreißigsekunden-Filme hin und her, und: »Ich nähe Knöpfe meiner Großmutter auf ein Stück Stoff, immer zehn, bis daraus ein Bild entsteht. Ich habe gerade das Gefühl, in einer Art Eigenatelier zu sein.«
Andere gehen mit weit Geringerem sofort online, Judith Hummel lässt reifen. Klar, sagt sie: »Ich stecke zu sehr in den Dingen drin, um keine Potenziale zu sehen.« Aber möglicherweise ist jetzt auch gerade mal die Zeit, sich selbst aus dem Verwertungszusammenhang zu nehmen. »Vielleicht entstehen ja Zeitdokumente. Ich habe jedenfalls noch nie so viel über Gesellschaft nachgedacht wie heute. Darüber, was ich selbst beitragen kann.« Nicht nur als Künstlerin. So hat sie sich gerade zur Erntehilfe angemeldet: »Ich bin mit einer Frau in Pfaffenhofen über die Tätigkeit Hopfenandrehen im Gespräch.« Wer weiß, was daraus reift. ||
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