Der Kinostart von »Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien« fiel dem Corona-Virus zum Opfer. Auf dem DOK.fest @home kann man nun Bettina Böhlers großartigen Dokumentarfilm nachholen.
Kein Requiem!
Nach diesem Film kommt es einem – entgegen allem besseren Wissen – vor, als wäre es in den letzten zehn Jahren ruhiger geworden. Einfach nur, weil die Stimme von Christoph Schlingensief fehlt. 2010 erlag der Allround-Künstler dem Lungenkrebs. Er hinterließ nicht nur eine Vielzahl von Filmen, Theateraufführungen und Kunstaktionen, sondern auch eine Bestandsaufnahme der Bundesrepublik, die gerade in ihrer grotesken Übertreibung mehr aufzeigt, als so manche Aktensammlung. Unter dem programmatischen Titel »Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien« präsentiert Bettina Böhler zum zehnten Todesjahr ein Denkmal für das Enfant terrible der deutschen Kunstszene. Mit großen Namen wie Tilda Swinton, Udo Kier oder Helge Schneider drehte er Filme, die auch heute noch fassungslos machen. Geschrei, Blut, Scheiße, Nazis, Kannibalismus, krisselige Super-8-Optik – weder zuvor noch danach war deutsches Kino so manisch. Auf den ersten Blick ist das alles vulgärer Trash. Dahinter steht jedoch viel mehr. Schlingensief hat eine Sprache gefunden, die Traumata der Bundesrepublik bloßzulegen. Ob es nun um die Bewältigung des Dritten Reiches (»Menü Total«), die scheinheilige Wiedervereinigung (»Das
deutsche Kettensägenmassaker«) oder den neu erstarkenden Rechtsextremismus (»Terror 2000«) geht, in seinen Filmen sieht man keine Gesellschaft mehr, die bröckelt, sondern, eine die schon längst in Trümmern liegt. Ob der Zuschauer es nun witzig oder widerlich findet, ist nebensächlich – entziehen kann er sich dem Radau nicht.
Außerhalb des Kinos verfuhr Schlingensief nicht anders. Mit Neonazi-Aussteigern nahm er auf der Bühne den »Hamlet« auseinander, mit seiner Partei Chance 2000 propagierte er »Scheitern als Chance«, auf der documenta X rief er zur Tötung Helmut Kohls auf, nach antisemitischen Äußerungen Jürgen Möllemanns verbrannte er eine Israel-Flagge vor dessen Wohnung. Das klingt alles nach Lust an Krawall und Randale unter dem Schutzmantel der Kunst. Wenn man Schlingensief dann aber im Interview sieht, wie er intelligent und einnehmend von seinen Beweggründen erzählt, merkt man, dass es ihm wirklich um etwas ging, dass er nicht anders konnte. Und sei es bloß, um den Kleinbürger oder KZ-Aufseher in ihm selbst unter Kontrolle zu halten. Später kam er doch in der Hochkunst an. 2004 inszenierte er den »Parsifal« in Bayreuth, 2010 gestaltete er den deutschen Pavillon in Venedig. Man kann höchstens erahnen, was er noch geschaffen hätte, wäre er nicht mit 49 Jahren aus dem Leben gerissen worden.
Wie soll man das nun alles in einen Film packen? Bettina Böhler hat wohl den richtigen Weg gefunden. In zwei Stunden reiht sie private Aufnahmen, Film- und Fernsehausschnitte und Interview-Schnipsel aneinander, stellt also die Person und nicht die Erinnerung an sie in den Mittelpunkt. Vor allem für diejenigen, die seiner Arbeit bisher verständnislos gegenüberstanden, ist ihr Film ein Muss. Er ist kein Requiem, in dem alte Weggefährten erzählen, wie inspirierend doch alles war, sondern eine zweistündige Wiederbelebung. Sie ist komisch, gefährlich, traurig und nicht zuletzt ein wichtiges Lehrstück. Wie kein anderer verstand es Schlingensief, den Wahnsinn mit dem Wahnsinn auszutreiben. Und da die Zeiten immer noch nicht ruhiger sind, sollte man sich das zu Herzen nehmen.
Christoph Schlingensief bei Filmgalerie 451
Neben Böhlers großartigem Dokumentarfilm kann man sich selbst mit Schlingensief befassen und noch einmal vom Werk des deutschen Enfant Terrible verstören lassen, im Streaming-Angebot von Filmgalerie 451: Mit Super-8-Orgien wie »100 Jahre Adolf Hitler« und »Das deutsche Kettensägenmassaker«, über Fernseharbeiten wie »U3000« bis hin zu Kurzfilmarbeiten aus Kindertagen tut sich hier das gefährliche, laute und trotzdem kluge Universum des Ausnahmekünstlers auf. Ein besonderes Highlight ist die Mockumentary »Udo Kier – Tod eines Weltstars«, die Schlingensief 1992 im Auftrag des WDR über seinen Freund und Weggefährten drehte – man muss es gesehen haben, um es zu glauben. Mit Pasolini, Roland Klick und Heinz Emigholz gibt es bei Filmgalerie 451 noch weitere Regie-Ausnahmen zu entdecken. ||
SCHLINGENSIEF – IN DAS SCHWEIGEN HINEINSCHREIEN
Dokumentarfilm | Regie: Bettina Böhler | 124 Minuten | Zu sehen im Programm des DOK.fest München @home 2020
CHRISTOPH SCHLINGENSIEF – FILME BEI FILMGALERIE 451
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