Schauspieler Ulrich Tukur geht mit seinem Roman »Der Ursprung der Welt« auf Zeitreise zwischen dem Faschismus einst und vielleicht morgen.
Ein Mann in zwei Epochen
Beim Stöbern im Zimmer seines Vaters entdeckt ein Junge faszinierende Fotos. Eine Postkarte klaut er: Gustave Courbets Gemälde »Der Ursprung der Welt« zeigt einen nackten Frauentorso mit der Scham im Zentrum. Damit ist ein Motiv gesetzt: die Sexualität. Aber der Autor Ulrich Tukur legt für seinen Protagonisten noch andere Fährten und Lunten aus: das Porträt einer Südländerin, die Aufnahme eines Mannes mit einem Leberfleck über dem Auge, wie er selbst. Diese Bilder ziehen den wohlhabenden Deutschen Paul Goullet bei einer Frankreichreise in einen gefährlichen Zeitstrudel von 2033 zurück nach 1943.
Ulrich Tukur ist Schauspieler, Musiker und Schriftsteller mit Faible für Surreales und sich durchdringende Zeitebenen. Schon in seinen Venedig-Erzählungen »Die Seerose im Speisesaal« findet sich Rätselhaftes, in seiner Novelle »Die Spieluhr« taucht ein Filmschauspieler in die deutsche Besatzung in Frankreich und eine geheimnisvolle Parallelwelt ein. Eine Parallelwelt entwirft auch sein erster Roman »Der Ursprung der Welt«, dazu eine beunruhigende Dystopie. In Deutschland und Frankreich herrschen 2033 totalitäre Systeme, überwachen ihre Bürger und verfolgen Andersdenkende mit Chips im Körper. In Paris findet Paul ein altes Fotoalbum, das ihn verstört: Der abgebildete Dandy von ca. 1920 gleicht dem 35-Jährigen aufs Haar, bis hin zum Leberfleck, hat sogar die gleichen Initialen. Einer Spur des Doppelgängers begegnet Paul im Ort Port-Vendres nahe den Pyrenäen, wo er Menschen sieht, die er zu kennen glaubt, und seinerseits offenbar auch erkannt wird. Vieles erscheint ihm wie ein Déjà-vu, er entdeckt seltsame Verknüpfungen mit seiner Familiengeschichte.
Ohnmachten versetzen ihn 90 Jahre zurück, als habe er damals dort gelebt. Eine Résistance-Gruppe, darunter der Arzt Prosper Genoux, schleuste Flüchtlinge aus Nazideutschland übers Gebirge nach Spanien. Dasselbe tut 2033 eine Widerstandsgruppe, für die Paul über seine alte Pensionswirtin zum Kurier wird. Immer dichter verstricken sich beide Epochen, zwischen denen Paul hin und her schleudert. Das Bindeglied ist sein Großvater, der als SS-Offizier 1943 Gestapo-Chef in Toulouse war. Der scheinbare Widerständler Genoux entpuppt sich als sadistischer Lustmörder, der Flüchtlinge um Geld und Leben bringt und Frauen zu Tode foltert (für beide gibt es historische Vorbilder). Paul hat Grund zu fürchten, mit seinem Vorläufer diese Obsession zu teilen. Aus der Tunneltiefe zwischen Realität und Albtraum hofft er auf Erlösung durch die Liebe zur Kämpferin Hélène. Doch ahnt man bald, dass die Symmetrie der Ereignisse kein Happy End erlaubt.
Tukur kann erzählen, Spannung schaffen und immer einen Rest Geheimnis belassen. Ob allerdings die Gleichsetzung des Nazifaschismus mit der Herrschaftsvision heutiger Rechtspopulisten deren strukturelle Gefährlichkeit nicht unterschätzt, darf man sich fragen. Immerhin rettet Paul seine Haut und entwirrt einen Teil seiner Familiengeschichte. Nur sein eigener Ursprung bleibt im Dunkeln. ||
ULRICH TUKUR: DER URSPRUNG DER WELT
S. Fischer, 2019 | 304 Seiten | 22 Euro
Hörbuch, von Tukur gelesen | Argon, 2019 | 2 MP3-CDs, 410 Min. | 24,95 Euro
Unsere aktuelle Ausgabe:
Online-Kiosk
Verkaufsstellen
ikiosk.de
Das könnte Sie auch interessieren:
Nana Oforiatta Ayim »Wir Gotteskinder«: Das Interview
Rachel Salamander: Ihr Archiv in der Monacensia
Lesetipps: Christian Kracht, David Foster Wallace, A. Kendra Greene
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton