Uwe Timm feiert im März seinen 80. Geburtstag. Eine Gratulation.
Lustvoll offen für das Mögliche
»Literatur«, erklärt Uwe Timm in »Der Verrückte in den Dünen«, »ist der utopische Raum. Eine Verweigerung der Nur-Realität, ein grundsätzliches Anders-Sein gegenüber dem Jetzt-und-Hier-Sein.« Der Band mit Reflexionen und Geschichten über »Utopie und Literatur«, der zu seinem 80. Geburtstag erscheint, ist auch eine von vielen Fragezeichen durchzogene Selbstverortung und ein Glaubensbekenntnis. Darin spürt Uwe Timm den Widersprüchen zwischen dem menschlichen Glücksverlangen und politischen Disziplinierungen nach, der Verwandlung von utopischen Gesellschaftsentwürfen in diktatorische »Erziehungsgesellschaften«, gegen die er beharrlich die subversive Kraft der Literatur beschwört.
Er wollte, meint er im Vorwort, erkunden, wo sich andere, »gerechtere, freiere, lustvollere Möglichkeiten des Zusammenlebens finden«. Eine Formulierung, die aus einem 68er-Aufruf stammen könnte. Die Studentenbewegung, mit der er sich seit seinem Debütroman »Heißer Sommer« von 1974 immer wieder auseinandergesetzt hat, hat Uwe Timm nachhaltig geprägt. Doch er gehört weder zu den Wir-damals-Nostalgikern, noch zu den besserwisserisch wetternden Bekehrten. Er ist ein unermüdlich Fragender und Hinterfragender, der sich auf Überzeugungen stützt, aber keinen Gewissheiten vertraut. In seinen poetologischen Essays hat er sich von dem Postulat eines politischen Auftrags als Autor fortbewegt zu einer »Ästhetik des Alltags«, einem Konzept von Literatur als einem »schönen Überfluss«, der sich allen Nützlichkeitsforderungen entzieht.
Uwe Timm – ein Chronist der Bundesrepublik
Dabei blieben seine Bücher stets in der Realität beheimatet. Der 1940 in Hamburg geborene Schriftsteller, der als Dreijähriger die Schrecken der Bombennächte erlebte, hat den geistigen Nährboden des Nationalsozialismus beleuchtet von seinem polyperspektivischen Montageroman »Morenga« über den Kolonialkrieg der Deutschen gegen die Nama und Herero bis zu seinem bislang letzten Roman »Ikarien« über den Eugeniker Alfred Ploetz, in Romanen wie »Kerbels Flucht« oder »Rot« die Ohnmachts- und Verlusterfahrungen der Generation der 68er geschildert, sich in der Erzählung und Selbsterkundung »Der
Freund und der Fremde« spät noch einmal seinem Weggefährten Benno Ohnesorg angenähert und mit »Johannisnacht« einen »Nachwenderoman« geschrieben.
Als Chronist der Bundesrepublik wird Uwe Timm oft bezeichnet. Er hat sein Leben fiktionalisiert, in Literatur verwandelt, anhand seiner Familiengeschichte, den Erinnerungen an seinen Bruder, der sich der SS-Division »Totenkopf« anschloss, kollektive und familiäre Mythen untersucht.In der Erzählung »Am Beispiel meines Bruders«, die nichts gemein hat mit der gegenwärtigen Flut bittersüß melodramatischer NS-Familiensagas, begab er sich 2003 auf eine tastende Spurensuche, die kompromisslos frei ist von Entlastungen und dennoch nie selbstgerecht überheblich. Er vergegenwärtigt die gespenstischen Schuldverleugnungen nach dem Krieg und zeigt die im Zorn nistende Liebe zu einem Vater, der den kleinen Jungen noch das Hackenschlagen, Tugenden wie Gehorsam und Tapferkeit lehrte, durch den er eine Erziehung erfuhr, die zu einer
lebenslangen Suche nach einer Sprache der Sinne führte, ihn zu einem Archäologen der verschütteten Wünsche machte.
»Doch Uwe Timm (…) ist nicht nur einer der erfolgreichsten, sondern einer der vielseitigsten deutschen Schriftsteller. «
Vor allem anderen aber ist er ein leidenschaftlicher und lustvoller Geschichtensammler und -erzähler. »Zuhören« heißt ein Gedicht von Peter Härtling für Uwe Timm. Viele Passagen bei ihm klingen wie dem Leben abgelauscht. Erzählen, meint Moritz Rinke in »Am Beispiel eines Autors«, einer Sammlung sehr persönlicher Geburtstagsglückwünsche prominenter Gratulanten wie Michael Krüger, Dagmar Leupold, Ingo Schulze und Tilmann Spengler, müsse »immer etwas mit Lust zu tun haben, vielleicht ist Timm deshalb eigentlich kein typisch deutscher Erzähler.«
Der Autor von »Die Entdeckung der Currywurst« und »Rennschwein Rudi Rüssel« wird von vielen gern gelesen, was bei manchen Kritikern reflexartiges Naserümpfen auslöst. Doch Uwe Timm, der in München und Berlin lebt, ist nicht nur einer der erfolgreichsten, sondern einer der vielseitigsten deutschen Schriftsteller. Seine Prosa, in der er Entwicklungsromane mit dokumentarischen Zeugnissen, autobiografische und fantastische Elemente collagiert, fügt sich nicht in konventionelle Formenschemata. Seine gern so leichtfüßig daherkommenden Texte entfalten komplexe Gespinste, wobei sie mitunter etwas überkonstruiert und -codiert geraten können. Vom »rhizomatischen Charakter des Timm’schen Werkes« spricht sein Lektor Martin Hielscher, das Motive variiert, Fäden fortspinnt, in dem Figuren immer wieder auftauchen, und das auch eine Selbsterforschung voller Ambivalenzen und Zweifel ist.
Sven Hanuschek über »Ikarien« von Uwe Timm
Nicht zuletzt erzählt er darin von der Liebe, ihrem Verebben in der Ehe, von Verlusten, der Vergänglichkeit und dem Tod. Seine Protagonisten, die die Sehnsucht nach Veränderung in ferne Länder, andere Kulturen und in die Arme anderer Frauen treibt, die ins Chaos und schmerzliche Selbstfindungsprozesse schlittern, sind Scheiternde. Dennoch hat er nie den Glauben daran verloren, dass es eine andere Realität geben könnte. »So alternativlos«, erklärt er in »Der Verrückte in den Dünen«, »ist die politische Wirklichkeit nicht.«
Viele, die mit ihm arbeiten, betonen, wie alterslos dieser so hellwache präsente Schriftsteller, der am 30. März 80 wird, immer noch wirkt. »Ist der Mann unsterblich?«, fragt der niederländische Verleger Joost Nijsen in »Am Beispiel eines Autors«. »Das bleibt abzuwarten, aber es sieht ganz so aus. Und falls es doch nicht der Fall sein sollte, gibt es noch seine Romane.« ||
UWE TIMM: DER VERRÜCKTE IN DEN DÜNEN. ÜBER UTOPIE UND LITERATUR
Kiepenheuer & Witsch, 2020 | 192 Seiten | 20 Euro
KERSTIN GLEBA, HELGE MALCHOW (HG.): AM BEISPIEL EINES AUTORS. TEXTE ZU UWE TIMM
Kiepenheuer & Witsch, 2020 | 208 Seiten | 20 Euro
Beide Bücher erscheinen am 5. März.
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