Philipp Arnolds Erstaufführung von Edouard Louis’ »Wer hat meinen Vater umgebracht« vermeidet brutale Ausweglosigkeit.
Wie sehr sind wir dadurch bestimmt, woher wir kommen, und was macht das aus uns? Eine Frage, die Édouard Louis (sich) immer wieder stellt. Dabei hat er selbst den Teufelskreis aus Armut, Ausgrenzung und mangelnder Bildung durchbrochen – nicht unbedingt freiwillig, sondern aus Not, weil seine Homosexualität ihm die Anpassung an die durch und durch schwulenfeindliche familiäre Umgebung unmöglich machte. Mit erstaunlicher Distanz und soziologisch geschulter Schärfe analysiert der gerade mal 27-jährige Shootingstar der französischen Literaturszene und intellektuelle Verfechter der Gelbwestenbewegung das Arbeitermilieu seiner Kindheit. In seinem ersten Roman »Das Ende von Eddy« (2014) klingt es noch unversöhnlich, wie er mit patriarchaler Lieblosigkeit, Rassismus und dumpfer Intoleranz in der nordfranzösischen Provinz abrechnet.
Vier Jahre später in »Wer hat meinen Vater umgebracht« scheint die Wut einer vorsichtigen Empathie mit der Elterngeneration gewichen zu sein. Doch um Schuld geht es auch diesmal wieder, um die der Mächtigen – Chirac, Sarkozy, Hollande, Macron – die mit ihren Entscheidungen ganz unmittelbar körperlich in das Leben der Unterprivilegierten eingreifen, indem sie »die Faulpelze« zwingen, trotz Krankheit weiterzuarbeiten, Zahlungen für notwendige Medikamente streichen und das Wohngeld im selben Moment kürzen, in dem sie die Vermögenssteuer für die Reichen abschaffen. »Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage«, heißt es im Text, »eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. Für uns ist sie eine Frage von Leben oder Tod.«
Seit dem Überraschungserfolg seines ersten Romans sieht sich Louis in der Verantwortung, gegen die Gewalt des Establishments anzuschreiben, und inzwischen hat ihn auch das Theater entdeckt, weil es die Körper, um die es bei Louis immer auch geht, selbst in ihrer Sprachlosigkeit präsent machen kann. Philipp Arnold hat nun am Volkstheater auf höchst impulsive Weise die deutsche Erstaufführung inszeniert. Zusammen mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Belle Santos zwängt er die drei jungen Darsteller – Jakob Gessner, Jonathan Hutter und Anne Stein – auf der kleinen Bühne in einem mit Gaze verhängten Holzverschlag geradezu in klaustrophobische Nähe zueinander. In hellen Hosen und Unterhemden verkörpern sie auf den ersten Blick eine verspielte jugendliche Neugier und Verletzlichkeit, weit entfernt von den väterlichen und mütterlichen Verhärtungen und Abstumpfungen, von denen im Text die Rede ist. Eine Ahnung davon wird erkennbar, wenn sie abwechselnd runzlige Latexmasken überziehen und von oben oder unten in eine Kamera sprechen, um auf der Projektionsfläche das eingesperrte, deformierte Selbst erscheinen zu lassen, in das der Vater sich zunehmend verwandelt hat, vielleicht auch, weil er sich die eigene homosexuelle Neigung nie eingestehen wollte.
Diesen Gedanken streicht die Inszenierung heraus und die vielen Rollen- und Perspektivwechsel erzeugen dabei eine flirrende Unruhe, aber doch nie die brutale Ausweglosigkeit der sozialen Verhältnisse, die der Text so nüchtern konstatiert. Zum Schluss lässt Hutter die Empörung in einer flammenden Anklagerede noch einmal mitreißend hochkochen – doch bei aller Aufbruchsenergie wird man den Eindruck nicht los, dass hier aus Ernst Spiel geworden ist. ||
WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT
Volkstheater – Kleine Bühne | 31. Jan., 1. Feb.
20 Uhr | Tickets: 089 5234655
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