Bei den Rätsel-Inszenierungen von Thom Luz braucht der Zuschauer Geduld und erwartungslose Offenheit. Dann entdeckt er vielleicht »Leonce und Lena«.
Vor zwei Jahren hat Thom Luz seine Version »nach Georg Büchner« in Basel inszeniert, Intendant Andreas Beck hat sie nun ans Residenztheater importiert. Das Wörtchen »nach« signalisiert große interpretatorische Freiheit bis hin zur Totaldemontage des Textes. Auch der Schweizer Regisseur dekonstruiert Büchners »Leonce und Lena« zu einem zersplitterten Kaleidoskop. Wer das Stück nicht kennt, ist da leicht frustriert. Bei der München-Premiere gab’s kräftige Buhs, aber auch viel Jubel für eine Collage aus absurden Traumfantasien.
Büchner nannte sein schnell skizziertes Stück für einen Wettbewerb des Cotta-Verlags 1836 »ein Lustspiel«. Prinz Leonce und Prinzessin Lena sollen heiraten, ohne sich zu kennen. Beide flüchten nach Italien, treffen und verlieben sich, ohne zu wissen, wer sie sind, und heiraten inkognito, maskiert als Puppen. Das ist trotz Komödienmechanik und kräftiger Gesellschaftssatire kein Lustspiel. Sondern ein hochpoetischer, todtrauriger Abgesang auf die Frage nach dem Sinn der Existenz, auf die Gewissheit des eigenen Ichs und des freien Willens. Thom Luz beginnt mit dem Schluss (auch die Bitte zum Handy-Ausschalten erklingt rückwärts gesprochen!). Aber er erzählt keine Handlung, er montiert Stimmungsbilder mit skurrilem Personal. Leonce klagt: »Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal«. So fühlen das wohl auch manche heutige Jugendliche.
Der Tanzsaal ist Luz’ Bühne – ein grau vernebelter Raum mit Ballettstange, verschlissenem Putz und zwei zersägten Klavierhälften rechts und links. Dazwischen sausen die Pianisten Annalisa Derossi und der befrackte Daniele Pintaudi, der auch Counter singt, hin und her, um Melodien zu komplettieren. Sie unterbrechen damit gern die zu großer Rede anhebenden Akteure, die sich einfinden. In Abendkleidung steigen Barbara Melzl, Elias Eilinghoff, Steffen Höld und zuletzt Lisa Stiegler bei Gewitter durch ein hohes Fenster. Melzl tastet sich ballettös an der Stange und deren imaginärer Fortsetzung lang, später tauscht man Uniform und Paillettenkleid (das wird gemangelt!) gegen Trainingsklamotten. Wer wer ist, bleibt ungewiss, alle Darsteller sprechen Texte aller Figuren. Mögliche Zuordnungen (am ehesten noch: Melzl Gouvernante, Höld Valerio, Eilinghoff Leonce und Stiegler Lena) verschwimmen, Identitäten lösen sich auf. Alles bleibt fragmentarisch, unbestimmt, geheimnisvoll: Im Zentrum stehen die bildhafte Sprachpoesie und die existenzialistische Melancholie des 23-jährigen Dichters, der ein halbes Jahr nach der Abfassung starb.
Es herrscht subtile, gebrochene Ironie: Derossi erteilt Ballettbefehle, parliert als Rosetta in rasendem Italienisch Leonce in Grund und Boden, steigt nach einem Kurzschluss auf einer Leiter aus dem Bild heraus. Den folgenden langen Blackout erhellen abwechselnd je eine Kerze auf den Klavierhälften.
Stühle werden geworfen, am Schluss stehen alle selbstverloren vor einem Spiegel. Das Prisma von Luz zeigt Büchner als frühen Nihilisten und Vorläufer des absurden Theaters. ||
LEONCE UND LENA
Residenztheater |10., 13. Jan., 1. Feb.| 19.30 Uhr |20. Feb.
20 Uhr | Tickets: 089 21851940
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