Simon Stones »Drei Schwestern« im Residenztheater. So aktuell war Tschechow noch nie.
Längst wird Tschechow nicht mehr als elegischer Melancholiker des russischen Fin de Siècle inszeniert wie 1904 von Stanislawski in Moskau. Manche Regisseure haben in seiner Gesellschaftskritik an der parasitären Oberschicht vor der Russischen Revolution die Komik entdeckt. Aber noch keiner hat ein Tschechow-Stück so radikal und stimmig ins Heute übersetzt wie der 35-jährige Regie-Shootingstar Simon Stone in seiner Neuschreibung der »Drei Schwestern«. »Theater heute« kürte sie zum Stück des Jahres 2016, Stones Baseler Inszenierung wurde 2017 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Der neue Intendant Andreas Beck hat sie nach München mitgebracht, zur Premiere gab’s Standing Ovations im Residenztheater.
Die Bühne von Lizzie Clachan ist ein Geniestreich: ein schickes, verwinkeltes Ferienholzhaus im Wald. Es dreht sich, jeder Raum, selbst das Klo, ist durch Fenster einsehbar. In der Küche finden sich die Familie und Freunde ein. Schnelles Palaver, familiärer Small Talk, Bosheiten, Nettigkeiten, auch mal ein »Fuck you« wie in einer französischen Partykomödie. Es wird getrunken, umarmt, gekabbelt, über Leben und Politik gestritten – der US-Präsident heißt jetzt Trump. Man hört Popsongs, klimpert auch selbst an Klavier und Gitarre.
Stone lässt die drei Schwestern nah an Tschechow: Olga (Barbara Horvath), die älteste, Single, Lehrerin, hat ein offenes Ohr für alle. Mascha (Franziska Hackl) trinkt und verachtet ihren Mann Theodor (Michael Wächter), der sich in die Clownsrolle rettet. Im ebenfalls ehe-unglücklichen Nachbarn Alexander (Elias Eilinghoff) findet sie einen Lover und plant ein gemeinsames Leben in Brooklyn. Irina (Liliane Amuat), die zukunftsgläubige Jüngste, will sich als Flüchtlingshelferin engagieren, hat aber in Berlin erlebt, dass die Zukunft auch nicht mehr ist, was sie mal war. Und zweifelt, ob sie ihren Dauerfreund Nikolai (Max Rothbart) wirklich liebt. Nach Moskau will hier keine mehr.
Die Männer zeichnet Stone meist als orientierungslose, neurotisch-zappelige Weicheier. Aber zunächst dekoriert der schwule Hausfreund Bob (Florian von Manteuffel) hingebungsvoll das Wohnzimmer für Weihnachten und berichtet später ausgiebig von seinen Sexabenteuern. Der Bruder Andrej (Nicola Mastroberardino) träumt von einer Karriere als Programmiergenie im Silicon Valley, daran hindern ihn seine Drogensucht und Zockerei. »Du bist ein Loser«, sagt seine aufgebrezelte Proll-Frau Natascha (Cathrin Störmer mit entnervender Quäkstimme). Nur Nikolais Freund Viktor (Simon Zagermann), in Irina verliebt, aber abgewiesen, scheint entschlossen schießfreudig.
Später wird das Klima kälter – es schneit, Natascha regiert im Haus, das sie sich unter den Nagel reißt. Und alles steuert geradewegs in die Katastrophe. Hochdramatisch, mit Wutausbrüchen, Schreianfällen, Verzweiflung, dem Ende aller Hoffnungen. Der alte Arzt Roman (Roland Koch), ein Schweralkoholiker, hat herzergreifend seine Lovestory mit Irinas Mutter erzählt. Er kann nur noch den Tod konstatieren, als man Nikolai verblutend in der Dusche entdeckt. Brillante Schauspieler, rasantes Tempo, minutiöses Timing, zeitgemäße Sprache und alles eng an Tschechows Handlung: Diese Aufführung ist ein Meisterstück. ||
DREI SCHWESTERN
Residenztheater| 25. Dez.| 18.30 Uhr
28. Dez.| 19.30 Uhr | Tickets: 089 21851940
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