Das Lenbachhaus präsentiert die erste Werkschau von Senga Nengudi.
In Linien eingespannt, im Zentrum eines energetischen Feldes, so agiert die Performerin in schwarzem Tanztrikot und schwarzer Strumpfhose. Und das, woran sie gefesselt ist, sind ebenfalls Strumpfhosen. Neun, zehn Befestigungspunkte und die Elastizität des Materials bestimmen den Umkreis der Bewegungsmöglichkeiten. »Die Skulptur ist im Wortsinne eine Tanzpartnerin«, erklärte Senga Nengudi 2016 in einem Interview. »Mich fasziniert es, von einer Skulptur umfasst zu werden oder eine Beziehung zu ihr aufzunehmen.«
Seit 1975 hat Nengudi diese und andere, »R.S.V.P.« betitelte Installationen entwickelt, bei denen Nylons an der Wand fixiert und am Boden verankert sind – schlaff oder straff, verdreht, verknotet, oder die mit Sand gefüllt Formen ausstülpen wie Brüste oder Hoden. Ein so zartes wie kraftvolles Spiel mit Formen und Schwerkraft. Nengudi hat sie zuerst selbst im Atelier aktiviert, dann bei Ausstellungseröffnungen gemeinsam mit Maren Hassinger, einer Kollegin und lebenslangen Freundin seit den Kollaborationen der Gruppe Studio Z in Los Angeles. Hassinger ist auch die Performerin der kraftvoll und achtsam austarierten Geometrien in den Fotoserien zu den »R.S.V.P.«-Performances.
Nengudis Werke sind in bedeutenden Sammlungen vertreten, etwa in der Londoner Tate Modern, im Centre Pompidou, im Whitney Museum oder im MoMA in New York. Dennoch ist die afroamerikanische Künstlerin viel zu wenig bekannt, und das Lenbachhaus hat nun, kuratiert von Stephanie Weber und Anna Straetmans, die erste größere Retrospektive und auch die erste Publikation zur Entwicklung des Gesamtwerks erarbeitet. So groß war die Wertschätzung für das Œuvre und für dessen Schöpferin, dass im Zuge der Arbeit die frühe Skulptur »Inside/Outside« (1977) und, mit Unterstützung der KiCo Stiftung, das Fototriptychon »Performance Piece« (1977), die Fotoserie »Ceremony for Freeway Fets« (1978) und die Skulptur »R.S.V.P. Reverie D« (2014) für die Sammlung des Lenbachhauses erworben wurden. Auch wird in einer Rekonstruktion »Performance Piece« wiederbelebt: Die Bausch-Tänzerin Julie Anne Stanzak und die Münchnerinnen Katrin Schafitel und Katja Wachter interagieren mit dem empfindlichen Nylonobjekt (ausverkauft!).
In ihren frühen Arbeiten, ab 1970, hatte Nengudi mit gefärbtem Wasser gearbeitet, das sie in transparente, zusammengeschweißte Folien füllte und so skulptural präsentierte. Diese, erst geometrischen, dann zu organischen Formen sich ausdehnenden und herabhängenden »Water Compositions« luden die Betrachtenden ein, sie zu berühren, haptisch zu erfassen. Wie einen Körper. Die Aktivierung bei der Begegnung mit ihren Objekten und Performances formuliert auch der Titel der Strumpfhosen-Installationen: Die Abkürzung steht für »Répondez, s’il vous plaît«. Die Antwort des Publikums kann, aber muss sich nicht in Aktion äußern. Nengudi berichtet 2013 in einem Interview von der Reaktion einer Ausstellungsbesucherin auf die »R.S.V.P«-Skulpturen: »Das drückt genau aus, wie ich mich fühle, wenn ich in ein Meeting gehe und Strumpfhosen trage, und alle zerren an mir.«
So eröffnet Nengudis Œuvre zwischen Skulptur, Performance, Tanz und Improvisation einen Dialog mit den Archiven persönlichster Erfahrungen, kollektiver Erinnerung und kultureller Kodes. Die Arbeit an den Wasserskulpturen beendete sie schon nach einem Jahr, als Wasserbetten auf den Markt drängten. 1974 gab sich die 1943 als Sue Ellen Irons geborene Künstlerin einen neuen Namen. Senga und Nengudi bedeuten Zuhörende, Ratspenderin und Heilerin. Zu den Strumpfhosen griff sie nach der Geburt ihres Sohnes: Sie verweisen auf die Dehnbarkeit des menschlichen Körpers, seine Ermüdung ebenso wie auf soziale Konventionen und Spannungen und Markierungen des Weiblichen. Sie tragen Lebensspuren, denn die Strumpfhosen stammen von Freundinnen oder wurden secondhand gekauft. Seit ihren Anfängen arbeitet Nengudi mit Fundstücken und billigen Materialien, deren Gebrauch sie umnützt: Kreppklebeband, in kurze Streifen gerissen, ergibt sinnlich spürbare Markierungen auf dem Körper, die tanzend dynamisiert werden können. Denn, wie Nengudi im Interview bemerkte, »es gab immer ein Element der Bewegung in allem, was ich gemacht habe.«
Der Tanz war es, der sie zur Kunst brachte. Schon in der Highschool hatte sie beide Fächer belegt (und Kurse in der Tanzschule von Lester Horton besucht), auf dem College entschied sie sich für Kunst als Hauptfach. Durch eine Tanztherapeutin kam sie ans Bildungszentrum des Pasadena Art Museum, wo sie Kunstpädagogikkurse für Kinder gab, die beispielsweise zwischen luftgefüllten Plastiksäcken herumtollen konnten. Auch »Black and Red Ensemble« (1971), ihre Abschlussarbeit an der California State University in Los Angeles, eine variable Anordnung von schwarzen Säcken aus Plastikfolie, die von der Decke hingen und vor den Wänden schwebten, hatte die Künstlerin als »environment for dance« bezeichnet. In ihrer Zeit in New York schnitt sie Geisterfiguren aus Flaggenstoff und hängte sie an die Feuerleiter ihres Hauses in Spanish Harlem, wo sie sich im Wind wiegten wie die schwankenden Drogensüchtigen des Viertels.
Masken und Rituale formieren weitere Dimensionen ihrer Kunstpraxis, die mit offenen Räumen im Alltag experimentierte und in sich zusammenfi ndenden Kollektiven agierte. Bei der Transformation von Energie, den Verwandlungen von Material und Formen beschäftigt sich Nengudi zugleich mit dem Wesen von Beziehungen, dem Politischen als dem Gesamtbild des Sozialen: als Künstlerin, »die eine Schwarze ist, eine Amerikanerin, eine Mutter, eine Tochter und eine Ehefrau«. ||
SENGA NENGUDI. TOPOLOGIEN
Städtische Galerie im Lenbachhaus| Luisenstr. 33 | bis 19. Januar| Di 10–20 Uhr, Mi–So/Fei 10–18 Uhr | Kuratorenführungen: 13. Dez. (Charlotte Coosemanns und Anna Straetmans), 10. Jan.(Annegret Hoberg und Stephanie Weber), 17. Jan (Daniel Oggenfuß und Anna Straetmans), jew. 16 Uhr; 14. Jan., 18 Uhr (Matthias Mühling) | Die schöne Publikation (Hirmer Verlag, 336 S., 245 Abb.) kostet 39,90 Euro
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