Seit fünf Jahren leitet Holger Pils, der zuvor als Dozent an der Universität Heidelberg gearbeitet und das Buddenbrookhaus in Lübeck geleitet hat, das Lyrik Kabinett. Im Gespräch erklärt er, warum dessen Arbeit gerade heute so wichtig ist.
Was hat sich unter Ihrer Leitung verändert?
Zum einen war es mir wichtig, die bewährte Tradition der klassischen Lesungen weiterzupflegen. Zum anderen habe ich neue Formate eingeführt, die etwas stärker diskursiv sind wie die Reihe »Zwiesprachen«, in der sich Dichter mit dem Werk von Dichtern, die sie geprägt haben, auseinandersetzen, oder die Reihe »Wissenschaft und Poesie«, eine Kooperation mit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Alle reden vom Lyrikboom und der großen Anschlussfähigkeit der Poesie. Dass sie tatsächlich funktioniert, lässt sich mit so einer Reihe sehr schön zeigen. Da sind spannende und befruchtende Dialoge möglich. Wir haben die Kooperationen erweitert. Es finden mittlerweile auch viele Kolloquien von Literaturwissenschaftlern bei
uns statt, die wir für ein breiteres Publikum öffnen.
Einerseits spricht man von einem Lyrikboom. Andererseits liegen die Auflagen von zeitgenössischen Lyrikbänden bis auf wenige Ausnahmen bei 200 bis 1000 Stück, gilt Lyrik als ein Nischenprogramm.
Ich glaube schon, dass es etwas wie einen Boom gibt. Lyrik ist eine sehr offene Kunstform, die sich zu anderen Sprachen, Kulturen und Traditionen und zu anderen Genres hin öffnet, zur Musik, zur Songpoetry, zum Poetry Slam, zur bildenden Kunst, zum Video. Es gibt eine lebendige, wachsende Lyrikszene. Aber es findet eine stärkere Fragmentierung statt. Dichter wie Peter Rühmkorf oder Robert Gernhardt wurden von vielen gelesen. Heute erscheinen mehr Lyrikbände, doch meist in sehr kleinen Verlagen, die es kaum in die Auslagen von Buchhandlungen schaffen. Die Lyrik bewegt sich in unzähligen verschiedenen Nischen. Auch dadurch gewinnt das Lyrik Kabinett an Bedeutung. Es schafft Öffentlichkeit. Zu uns kommen die Leute auch, wenn ein Name im Programm steht, den sie noch nicht kennen. Wir können nicht über mangelndes Publikum klagen, und das ist bei Lyrik nicht selbstverständlich. Wir geben mit dem Hanser Verlag etwa drei Lyrikbände im Jahr und eigene kleinere Reihen heraus. Viele internationale Lyriker würden sonst gar nicht auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen, wie die wunderbare dänische Dichterin Pia Tafdrup. Wir haben nach einer Lesung spontan beschlossen, einen Gedichtband von ihr herauszugeben. Sie war überglücklich. Ohne
deutsche Ausgaben haben Lyriker kaum eine Chance, in Deutschland zu Lesungen und Festivals eingeladen zu werden.
Das Lyrik Kabinett möchte auch Schüler für Poesie begeistern, schickt unter dem Motto »Lust auf Lyrik« Dichter und Dichterinnen in Schulklassen.
Das ist seit jeher ein Herzensprojekt von Ursula Haeusgen. Wir haben die pädagogischen Programme in den letzten Jahren stark ausgebaut etwa um Angebote für Kinder, die gerade Deutsch lernen, für Klassen von Geflüchteten. Über die Arbeit mit Gedichten wird vielen erstmals möglich, über Dinge zu sprechen, über die sie bis dahin nicht reden konnten. Das zu erleben, ist sehr bewegend. Außerdem bieten wir jetzt Workshops für Klassen an, die unsere Bibliothek besuchen und dann selbst reimen, dichten und rappen. Die Nachfrage ist immens.
Wird Lyrik in den Schulen vernachlässigt?
Vor allem die zeitgenössische Lyrik, für die es noch keinen Interpretationskanon gibt. Da sind viele Lehrer offenbar unsicher. Aber Lyrik ist kein Kreuzworträtsel. Es geht nicht um die richtige Deutungslösung. Das versuchen wir ja gerade zu vermitteln. Man muss nicht alles verstehen, kann sich manchmal einfach zurücklehnen und ein Gedicht auf sich wirken lassen. Wenn man sich dafür öffnet, dann kann man den ganzen Reichtum der poetischen Sprache lustvoll entdecken.
»Wozu Gedichte da sind« hat Dirk von Petersdorff die jüngste »Münchner Rede zur Poesie« betitelt. Wozu, glauben Sie, sind Gedichte da?
Dass man vertraute Dinge neu sehen kann. Gedichte können auch Halt geben. Ein Gedicht kann gute Gesellschaft sein, für den Moment oder auch fürs Leben. Ich persönlich aber finde vor allem den Erkenntnis- und Wahrnehmungsaspekt sehr wichtig. Gedichte können uns aus gewohnten Denkmustern befreien und uns zeigen, wie stark sprachlich verfasst unsere Welt ist. Durch Gedichte kann sich der Blick auf die Welt verändern. ||
Das könnte Sie auch interessieren:
Literaturfest München: Lukas Rietzschel & Antje Rávik Strubel
Top 10 Bücher für den Sommeranfang
Friedrich Ani: Der Münchner Autor im Porträt
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton