Auch in diesem Jahr empfehlen wir euch unsere Literaturtipps für »untern Baum«. Weitere Empfehlungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe hier, hier und hier
Christoph Poschenrieder – Der unsichtbare Roman
von Sven Hanuschek
Er hat es wieder mal geschafft: Gustav Meyrink (1868–1932), gescheiterter Bankier, Satiriker, augenzwinkernder Okkulter, Yogi, Dickens-Übersetzer und Romancier (»Der Golem«) hat in Christoph Poschenrieder einen so amüsanten wie reflektierten Erzähler gefunden, der dem brillanten und ein bisschen zwielichtigen Wiener erlegen ist. Poschenrieder präsentiert Meyrinks Leben anhand einer Unglaublichkeit: Das Auswärtige Amt hatte 1917 tatsächlich dem unpolitischen Autor den Auftrag erteilt, einen Roman zu schreiben, der die Schuld am Ersten Weltkrieg den Freimaurern in die Schuhe schiebt. Meyrink nahm das Geld und den Auftrag an, um Schlimmeres zu verhüten. Nebenher erzählt Poschenrieder von seinen Recherchen und von der Münchner Räterevolution, der damalige Starnberger Meyrink könnte sich mit Erich Mühsam beraten haben. Aber Meyrink überstrahlt das alles; er hat den Roman nie geschrieben und die Schuld nicht den Freimaurern oder den Friseuren gegeben, sondern allen, die den Krieg nicht verhindert haben. Vielleicht gibt es den Roman aber doch, und Meyrink hat sich Poschenrieder als Medium gesucht, und der besagte Roman heißt »Der unsichtbare Roman«. Wer weiß. ||
CHRISTOPH POSCHENRIEDER: DER UNSICHTBARE ROMAN
Diogenes, 2019 | 271 Seiten | 24 Euro
Benedikt Feiten – So oder so ist das Leben
von Sofia Glasl
Der große Anton Lobmeier stammt aus einer Dynastie von Verlierern, dem Spitznamen zum Trotz. Nur konsequent, dass er sich in sein Schicksal fügt und den gut bezahlten Agenturjob kündigt. »Es gibt nichts Schöneres, als Ambitionen loszulassen«, sagt er. Doch das ist gar nicht so einfach, weil sogar die Schichtleitung beim Fahrradlieferdienst glaubt, er müsse doch mehr wollen, als nur Essen auszufahren. In seinem zweiten Roman »So oder so ist das Leben« erzählt der Münchner Benedikt Feiten das Scheitern als Lebensform mit einer Heiterkeit, die selten ist in der deutschen Literatur. Damit hebelt er spielerisch die Dialektik der Leistungsgesellschaft aus, denn das Leben seines Helden funktioniert nach anderen Maßstäben – weshalb der große Anton Lobmeier weder Held noch Antiheld ist, sondern ein Zaungast des Turbokapitalismus. Er schaut lieber zweimal, ob er die Leute um sich herum leiden kann, und nicht, ob sie ihm einen Vorteil bringen. Das macht sowohl diese Figur als auch den Roman grundsympathisch und zu einer gleichermaßen erholsamen wie besinnlichen, weil besinnenden, Lektüre. ||
BENEDIKT FEITEN: SO ODER SO IST DAS LEBEN
Voland & Quist, 2019
288 Seiten | 20 Euro
Margaret Atwood – Aus dem Wald herausfinden. Ein Gespräch mit Caspar Shaller
von Thilo Wydra
Zwei Tage lang sitzt Margaret Atwood 2018 in Toronto in einem Café und spricht mit dem jungen Journalisten Caspar Shaller über ihr Leben und ihr Schreiben, über »die Marke Atwood« und ihre drei Identitäten, und darüber, dass auch zu Hause »Bitte nicht stören!«-Schilder an ihrer Schreibzimmertür Familie und Freunde genau davon eben nicht abhalten. Atwood, die Grande Dame der anglokanadischen Literatur, konnte soeben am 18. November ihren 80. Geburtstag begehen und ist im Oktober mit dem Booker Prize ausgezeichnet worden. Da kommt der neue Gesprächsband aus dem Zürcher Kampa-Verlag punktgenau, zumal Atwoods jüngstes Buch »Die Zeuginnen« gerade auf sämtlichen internationalen Bestsellerlisten zu finden ist. Im Gespräch mit Atwood, weltbekannt durch ihren dystopischen Roman »Der Report der Magd« (1985), geht es denn auch um Politik und um Macht, um das Geschlechterverhältnis, um Religion, um das aktuelle Zeitgeschehen, um die Klimakatastrophe und neue Energien. »Während wir hier Debatten führen, werden wir bei lebendigem Leibe gekocht.« Die alte Dame spricht so blitzgescheit wie humorvoll, spitzzüngig und feingeistig, und auf ein Zitat von George Steiner ruft sie schon mal »bullshit!« aus. Für die Atwood-Leserschaft ein Must read. ||
MARGARET ATWOOD: AUS DEM WALD HINAUSFINDEN. EIN GESPRÄCH MIT CASPAR SHALLER
Kampa Verlag, 2019 | 160 Seiten | 20 Euro
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