Marie Nüzels »Rococons« und Stephanie Felbers »(In)Security« zeigen sehr unterschiedliche Facetten dessen, was in der Münchner freien Tanzszene gerade wächst.
Sie ist 19 und wollte nach der Schule etwas Nützliches tun. »Ja, ich bin eine von denen«, sagt Paula Dominguez in Marie Nüzels »Rococons – Ein Bericht über Marie A.« Die von der Stadt München debütgeförderte Produktion verschränkt inhaltlich die Geschichte der kindlich-sorglosen Königin Marie Antoinette – ein laut Stefan Zweig leichtfertiger »mittlerer Charakter«, der bekanntlich auf der Guillotine endete – mit der besorgten »Fridays for Future«-Jugend von heute, die man ja noch vor Kurzem als gänzlich unpolitisch verschrie. Zentral für den mosaikartigen Abend aber scheint der Appell, den Paula ihren eben zitierten Worten nachschickt: Ihre Generation, sagt sie, stehe unter Druck und wolle nicht länger pausenlos »Topleistungen erbringen« müssen, sondern »auch mal was ausprobieren« und hineinwachsen dürfen in größere Aufgaben.
Denn ähnlich, wie die Öffentlichkeit eine Greta Thunberg inthronisiert und diffamiert, geht es auch jungen Künstlern: Wer nicht vom Fleck weg eine Marktlücke füllt oder eine charakteristische Handschrift auf den Tisch knallt, fällt rasch unter denselben. Der Jugendbonus ist groß, doch oft schon nach der ersten Enttäuschung verbraucht: Deshalb ist die erweiterte Debütförderung der Stadt – statt in den Vorjahren zwei wurden 2019 fünf freie Tanzproduktionen gefördert – ein Schritt in die richtige Richtung. Zumal auch die dreijährige Optionsförderung wie die Einzelprojektförderung aufgestockt wurden, sodass in Summe zwölf statt vormals sechs freie Choreografen und Choreografinnen, die künstlerisch schon länger auf dem Weg sind, diesen vorerst weiter gehen können.
Eine von ihnen ist Stephanie Felber, die nicht erst seit ihrem debütgeförderten »L’atelier de flanerie« von 2015 Choreografie primär als Raumaneignung versteht und mit dem Publikum als Co-Akteur Gruppendynamiken und Wahrnehmungsschichten erforscht. Und da bewegt sich was vom eher installativen »L’atelier«, in dem man sich als Besucher noch recht verloren fühlte, über das das Publikum teils sehr stark lenkende »vague de corps« bis zur aktuellen Produktion »(In) Security«. Das »interaktive Situationsfeld«, wie Felber es nennt, ist von choreografischen Inseln durchsetzt, auf denen sich Sunday Israel Akpan, Susanne Grau, Nikos Konstantakis, Ludger Lamers und Elsa Mourlam solitär oder im Pulk an den sozialen Codes des Selbst- und Un-Sicherseins abarbeiten. Emotionale Begleiterscheinungen inklusive. Mal fangen sie einander auf, schlittern haarscharf an einzelnen Zuschauern vorbei, stampfen synchron wie ein Securitytrupp oder ducken sich hinter den Säulen, auf denen im Schwere Reiter Bildschirme zeitversetzt Videomitschnitte zeigen und rätselhafte Instrumente stehen, die zum Klingen bringen kann, wer immer sich traut. Der Abend ist ein Mosaik, das sich jeder Besucher aus synästhetischem Material selbst zusammensetzt, wozu auch körperliche Berührungen durch die Performer oder »Entführungen« in ein Séparée gehören, aus dem nur ein (mitunter irreführender) Teil des Geschehens nach außen dringt. Witziges ist dabei, Politisches und nachdenklich Machendes – und viel den Gang der Ereignisse beeinflussende Entscheidungs-Freiheit. Auch wenn nicht recht durchsichtig ist, wie beides miteinander zusammenhängt.
Marie Nüzels »Rococons«, das wenige Tage darauf im HochX Premiere hatte, steht noch ziemlich am Beginn eines ganz anderen Weges. Mit einer Bewegungssprache, die hauptsächlich aus dem Ballettstudio und vom künstlerisch grundierten Unterhaltungstanz kommt, probiert sich der Abend nach vielen Richtungen hin aus. Ob mit Commedia-dell’-arte-Clownereien, Kontaktimprovisationen, Stepp- oder höfischen Tänzen: Nüzel und ihre drei Mittänzerinnen durchqueren zu Musikeinspielungen vom Kinderlied über Reinhard Mey und Billie Eilish bis zu Monteverdis »Lamento della Ninfa« Zeiten und Stile, die sie meist auf ironischer Distanz halten. Ausladende Reifröcke werden mit Plastikfolie bespannt, dekorativ-groteske Kopfaufbauten verraten das (Ereignis-)Designstudium der Tänzerin und jungen Choreografin, die Wahl des Themas ein vorhergehendes Geschichts- und Politikstudium. Das Ganze wird kostprobenhaft und recht hübsch im Guckkastenrahmen präsentiert. Was reicht, denn Marie Nüzel darf sich ja noch entwickeln.||
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