Der norwegische Comiczeichner Steffen Kverneland versucht in »Ein Freitod«, den Suizid seines Vaters zu verstehen – eine kluge, persönliche Spurensuche mit ungewissem Ausgang.
Schau nur, was für ein trauriger, tiefsinniger, bemitleidenswerter junger Mann! Ist es das, was das Pärchen im Vorbeispazieren denkt? Schwer zu sagen. Die beiden sind nur angedeutet, in groben Strichen skizziert, so wie der Wald, der Schotterweg, auf dem sie gehen, die Bank unter den schweren Fichtenzweigen im Vordergrund. Steffen Kverneland zeichnet so radikal subjektiv, wie es der Comic eben erlaubt. Wichtiges en détail und in Farbe, Nebensächliches flüchtig. Und wichtig ist hier vor allem einer: Kverneland selbst, damals ein schlacksiger 18-jähriger Wuschelkopf mit Brille, der demonstrativ, selbstzerstörerisch, melancholisch und ohne Pause raucht. Er darf, ja, er muss das wahrscheinlich. Sein Vater hat sich gerade das Leben genommen.
35 Jahre später geht Kverneland, inzwischen einer der bedeutendsten norwegische Comickünstler, auf Spurensuche. Er sucht nach Gründen für den Suizid des Vaters, eines kreativen, klugen, auf seine Art liebevollen Mannes. Und er begegnet dem Jugendlichen, der er selbst damals war. Kverneland ist streng mit sich, und auf eine zurückhaltende, traurige Art ehrlich. Statt den Schmerz zu stilisieren, sein Leiden auszustellen, reflektiert er unnachgiebig die unvorteilhafte Seite der Trauer, die Selbstvorwürfe, die jeder kennt, über die man aber nicht spricht: Den Verdacht etwa, er habe damals die Nachricht vom Tod des Vaters ausgenutzt, um sich der Mutter gegenüber als Raucher zu outen; die Scham angesichts von Selbstinszenierungen wie der damals im Wald; die Erinnerung, dass oft nicht der Verlust selbst, sondern erst die mitfühlenden Blicke der anderen ihn hemmungslos zum Heulen brachten. Kverneland verknüpft erinnerte Episoden mit Einblicken in seine Recherchen, karikaturistische Szenen mit düsteren Aquarellen, vergilbte Fotos mit Zeichnungen eines Traums, in dem der Vater plötzlich wieder lebt und problemlos per SMS erreichbar ist.
»Ein Freitod« ist ein collagehafter Versuch der Aufarbeitung, der jeden Rückschlag miterzählt. Die Graphic Novel liefert aber auch Einblicke in Lebenswelten, die an die autobiografische Forschung von Didier Eribon oder Annie Ernaux erinnern: Das geradezu obligatorische Familienideal der 1970er, die Härte und das Leistungsdenken der vom Krieg geprägten und geschädigten Großeltern, ein Alltag, in dem die Bewunderung für Muhammad Ali und die Liebe zum Jazz problemlos vereinbar sind mit rassistischen Sprüchen und Schubladendenken.
Kverneland stößt auf Hinweise, dass der Vater schon früh von Selbstmordgedanken gesprochen und mit schweren Depressionen gekämpft hat. Er findet Fachbücher über die Krankheit, in denen sein Vater selbst Passagen unterstrichen hat – sie sind im Buch wiedergegeben. Und er lernt ihn als einen Menschen kennen, der in seinem Leiden lange Zeit ungeheuer verantwortungsbewusst und beherrscht agierte. Die Zeichnungen werden heller, leichter und gegenwärtiger am Ende des Bandes. Das Lesen wird es auch. Dennoch lohnt es sich zurückzublättern in diesem Buch, das auf unprätentiöse Weise versucht, aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu finden. ||
STEFFEN KVERNELAND: EIN FREITOD
avant-verlag 2019 | 120 Seiten | 28 Euro
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