Bei »À Jour«, dem Abend mit Uraufführungen des Bayerischen Staatsballetts, gibt es auch ein Kriminalstück zu sehen.
Im Probenhaus des Bayerischen Staatsballetts am Platzl wird gerade Neues kreiert. Nanine Linning probt einen intimen, elegischen Pas de deux für ihr »DUO. For 16 dancers and 9 musicians«. Im Rahmen der Festspiel-Werkstatt im Juli arbeitet sie erstmals mit dem Ensemble zusammen. Ein Stockwerk tiefer wird ebenfalls intensiv an einem Pas de deux gefeilt. Eigentlich ist er gerade erst im Entstehen. Der 1987 in Moskau geborene Wiener Choreograf Andréy Kaydanovskiy überlegt, demons-triert, variiert selbst Handgriffe, überlegt wieder. Der Tänzer Jonah Cook schwingt seine Partnerin Ksenia Ryzhkova schleifend auf dem Boden um sich herum, zurrt sie heran, in die Höhe, dreht sie und will sie oben halten. Schwer ist die Frau, natürlich auch, wenn sie liegt und der Mann an ihr zerrt und dann selbst, purzelbaumend, auf der anderen Seite neben ihr zu Boden geht. Marina Duarte und Sava Milojevićals Zweitbesetzung schauen zu, denn auch sie lernen den Part, der hier gerade entwickelt wird.
»Eine Szene ziemlich am Anfang des Stücks, die das Ende der Geschichte zeigt«, erklärt Kaydanovskiy später. Schon allein diesem Statement ist seine Freude am Erzählen anzumerken. In München stand er bereits 2017 beim »Ballettabend – Junge Choreographen« mit »Discovery« auf dem Programm. Bei der dritten Ausgabe heißt das Format nun »À Jour«, was die Künstler nicht mehr als Jugendriege potentiell in die zweite Reihe stellt, sondern die Frische und aktuelle Relevanz der Kreationen beschwört. (Übrigens fand Ballettdirektor Igor Zelensky, dessen Spielplan ansonsten mit Uraufführungen geizt, dafür bisher nur Männer als vielversprechende Talente und junge Meister.)
Andréy Kaydanovskiy hatte beim Wiener Staatsballett getanzt, war für seine Choreografien mehrfach ausgezeichnet und 2016 mit dem Deutschen Tanzpreis in der Kategorie Zukunft gewürdigt worden. Und beim letzten Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker hatte er das Staatsballett-Ensemble in allen Räumen der Staatsoper inszeniert.
Spielte sein »Discovery« im Büro, ist nun ein Hotel der Schauplatz. »Dieses Mal ist alles ein bisschen komplizierter, was die Geschichte betrifft«, meint Kaydanovskiy. Sein Krimi beginnt mit dem Ende, dem Mordfall, und als Anregung für »Cecil Hotel« diente ihm das Haus in Los Angeles, berüchtigt für Serienmörder wie Richard Ramírez und Jack Unterweger sowie viele Selbstmorde, das zuletzt 2013 mit der Leiche einer Studentin im versiegelten Wassertank Schlagzeilen machte. »Mich hat vor allem das Hotel als Ort interessiert«, erzählt Kaydanovskiy, »vielleicht weil ich momentan viel Zeit in Hotels verbringe. Diese Abstufungen der Räume: der noch ziemlich öffentliche Ort der Lobby, der Aufzug, den ich mit Fremden teile, der Gang. Mit einem Schritt ist man dann privat, im Zimmer, wo allerlei passieren kann. Und dann gibt es ja noch ein Badezimmer …«.
Die seltsame Probenszene, in der mit Schwere gearbeitet wird, mit einem puppenhaften Schlenkern, und in der die Frau immer wieder zu Boden geht, ist also tatsächlich ein Pas de deux mit einer Leiche. »Es ist gar nicht so leicht, eine Leiche zu choreografieren«, erläutert Kaydanovskiy. »Es ist schwer für alle, für den Mann, weil er nicht helfen kann, und schwer für die Frau, die quasi nicht reagieren kann. Denn was beim Pas de deux spannend ist, ist die Kraft und ihre Verteilung zwischen den beiden. In diesem Fall kommt alles nur von einer Seite, und deshalb probieren wir immer wieder Dinge, die dann doch ein so spannendes Ergebnis ermöglichen wie bei einem Pas de deux zwischen lebendigen Leuten.« Musikalisch arbeitet er hier mit einer Orchesterversion von »Que Sera, Sera«, dem Oscarprämierten Song von Doris Day in Hitchcocks Spannungsklassiker. Die Streicher knarzen, Flöten jubilieren in diesem fast burlesken Walzer. Kaydanovskiy hat viel Humor. »Ein Mörder, der mit einer Leiche spielt, das ist ja lächerlich! Und absurd.«
Wie er die Räume und Szenen bühnenbildtechnisch inszeniert, will er nicht verraten, auch nicht den Gang der Handlung. »Der Portier ist da, der kriegt alles mit.« Noch nicht bekannt ist der Titel der zweiten Neukreation bei »À Jour«. Die erarbeitet im Juni Edwaard Liang mit dem Ensemble. Der künstlerische Leiter des Ballet-Met in Ohio hat sich Franz Schuberts Streichquartett »Der Tod und das Mädchen« vorgenommen. Liang tanzte beim New York City Ballet und choreografiert schon seit 2003, seiner Zeit beim Nederlands Dans Theater. Für den international renommierten Vertreter einer neoklassischen Bewegungssprache ist es die erste Zusammenarbeit mit den Münchnern.
Als erste Frau in die Reihe berufen wurde die Japanerin Yuka Oishi. Sie kommt vom Hamburg Ballett und ist seit 2015 als freischaffende Choreografin international unterwegs. Sie wagt einen eigenen Zugang zur mit fast 300 Tanzwerken meistchoreografierten Musik der Moderne, Strawinskys »Le Sacre du Printemps«. Ihr »Sacré« ist eine Hommage an Vaslav Nijinsky, feierte 2018 Premiere in St. Moritz – und wurde eigens für Zelenskys Schützling Sergei Polunin choreografiert, der dieses »Opfer« auch in München tanzen wird.
Neues vom und für den Nachwuchs gibt es schließlich auch beim Sitzkissenkonzert in der Parkettgarderobe des Nationaltheaters zu erleben. Das Format des Campus-Programms ist auf Publikum im Alter von vier bis sieben Jahren zugeschnitten. Diesen Juni wird es erstmals nur von Mitgliedern der Kompanie gestaltet. Der Südkoreaner Dukin Seo aus dem Corps de Ballet präsentiert seine erste choreografi sche Arbeit, »Die Spielzeugschachtel«. Zu Claude Debussys »La Boîte à joujoux« (1913/1921), einem feinsinnigen und anspielungsreichen »ballet pour enfants«, das der Komponist seiner Tochter gewidmet hatte, wird Dukin Seo – zusammen mit Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts, der Erzählerin Simone Endres und einem Bläserquintett des Bayerischen Staatsorchesters – den bösen Kaspar und die Tänzerin, den traurigen Feuerwehrmann, die Soldaten und die anderen Spielzeuge und Puppen zum Leben erwecken. Und anders als im »Cecil Hotel« findet hier nach allerlei Kämpfen die Geschichte doch ein gutes Ende. ||
À JOUR – ZEITGENÖSSISCHE CHOREOGRAPHIEN
Prinzregententheater | 28. und 30. Juni, 1. Juli, wieder Jan. 2020| 19.30 Uhr | Tickets, 089 21851920
SITZKISSENKONZERT: »DIE SPIELZEUGSCHACHTEL«
Parkettgarderobe des Nationaltheaters| 22. / 29. Juni
14.30 Uhr | weitere Vorstellungen im November
Tickets: 089 21851920
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