Leïla Slimani ist zu einem Star der Literaturszene avanciert. In München konnte man sie bei einer Lesung erleben.
Leïla Slimani, 37 Jahre alt, ist seit Erscheinen ihres Romans »Chanson Douce« 2016, deutsch »Dann schlaf auch du« so etwas wie ein Weltstar der Literatur. Ihr erst zweiter Roman verkaufte sich allein in Frankreich mehr als 600.000-mal, wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt und erhielt den renommierten Prix Goncourt. Präsident Emmanuel Macron bot ihr den Job der Kulturministerin an, was sie ablehnte. Nun ist auch der erste Roman der Frankomarokkanerin, die heute in Paris lebt, auf Deutsch erschienen unter dem Titel »All das zu verlieren«. Die ungeheure Intensität, die »Dann schlaf auch du«, die Geschichte der mörderischen Nanny Louise kennzeichnete, ist schon in der Geschichte von Adèle zu spüren, einer »modernen Madame Bovary«, wie die Zeitung »Libération« schrieb.
Leïla Slimanis Heldinnen sind Powerfrauen, die den Abgründen des Lebens nicht widerstehen können – oder wollen. Das Zitat von Milan Kundera, das »All das zu verlieren« vorangestellt ist, trifft die Seelenlage nicht nur von Adèle recht gut: »… Man ist sich seiner Schwäche bewußt und will sich nicht gegen sie wehren, sondern sich ihr hingeben. Man ist trunken von der eigenen Schwäche, man möchte noch schwächer sein, man möchte mitten auf einem Platz vor allen Augen hinfallen, man möchte unten, noch tiefer als unten sein.« Adèle, eine attraktive Frau, Journalistin, lebt mit ihrem Ehemann, einem Chirurgen, und ihrem kleinen Sohn in einem schicken Viertel in Paris nahe von Montmartre. Das klingt nach dem Potenzial für ein glückliches Leben, aber ihr Mann Richard und sie »haben sich nie besonders zueinander hingezogen gefühlt oder gar Zärtlichkeit füreinander empfunden.« Kurz, für Adèle fühlt sich dieses Leben falsch an. Auf der Suche nach dem richtigen Leben im falschen führt sie ein Doppelleben, stürzt sich in ungezählte sexuelle Abenteuer. »Sie wollte immer nur eins: beachtet werden. Sie hat versucht, Schauspielerin zu werden«, heißt es einmal in dem Buch. Bei den sexuellen Rollenspielen geht es ihr nicht um Begehren, sondern eher um die manische Aneinanderreihung von Situationen, in der Hoffnung, der eigenen Leere etwas entgegenzusetzen. Es ist eine vergebliche Hoffnung.
Irgendwann habe sie entdeckt, dass sie oft über das schriebe, was ihr Angst mache, hat Leïla Slimani einmal gesagt. Das Scheitern und die Melancholie sind für sie Teil des Lebens und des Schreibens.
Und der Sex sei ja oft genug einfach nur trivial, so wie Adèle ihn empfinde, sagt sie während der Lesung im Münchner Literaturhaus, auch wenn es natürlich Ausnahmen gebe. Das Wagnis bei diesem Buch sei nicht, über eine Nymphomanin zu schreiben, sondern das Schreiben als solches. Das Schreiben ist für sie ein äußerst harter Prozess, Nichtgelingen inbegriffen. Aber: »Wenn man keine Angst hat, warum sollte man dann schreiben?« Andererseits bedeutet ihr das Schreiben eine ungeheure Freiheit, wie sie oft betont. Nicht zuletzt die Freiheit, allein zu sein. Und eine andere zu sein. »Ich bin nicht mehr wirklich ich, wenn ich schreibe.« Dass sich eine Zuhörerin bei der Lesung dann verspricht und Leïla Slimani mit Adèle anspricht, geht dann aber vielleicht doch etwas zu weit, auch wenn Leïla Slimani wie ihre Romanfigur einmal Schauspielerin werden wollte, als Journalistin für die Zeitschrift »Jeune Afrique« gearbeitet hat, gut bürgerlich verheiratet ist und zwei Kinder hat.
Als Leïla Slimani mit »All das zu verlieren« auf Lesereise in Marokko war, nutzten das zahlreiche Frauen, um der Autorin von ihrer eigenen Sexualität zu berichten. Leïla Slimani recherchierte weiter und machte ein Buch daraus. Auch das ist jetzt auf Deutsch erschienen unter dem Titel »Sex und Lügen. Gespräche mit Frauen aus der islamischen Welt«. ||
LEÏLA SLIMANI: ALL DAS ZU VERLIEREN
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Literaturverlag, 2019 | 22 Euro
LEÏLA SLIMANI: SEX UND LÜGEN. GESPRÄCHE MIT FRAUEN AUS DER ISLAMISCHEN WELT
btb, 2018 | Aus dem Französischen von Amelie Thoma | 12 Euro
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