Der Oud-Meister Anouar Brahem ist ein Mittler zwischen den Klangkulturen. Und er trägt seine Botschaft auch nach München.

Amouar Brahem

Ernst gemeint

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Anouar Brahem Quartet © Caterina Di Perri / ECM Records

Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder ein wenig mit Edward Said zu beschäftigen. Bis zu seinem Tod 2003 war der amerikanische Literaturtheoretiker und Kulturwissenschaftler der Frage nachgegangen, wie sehr die westlicheuropäische Vorstellung der arabischen Welt von einer Denkstruktur des Kolonialismus geprägt ist. Palästina bekam in seinen Analysen der Diskurse als zentraler Kontaktpunkt der Interessen eine besondere Bedeutung. Denn die Region ist spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zerfall des Osmanischen Reiches ein Spielball internationaler und nahöstlicher Politik, vom Völkerbundmandatsgebiet unter britischer Führung bis hin zum Gazakrieg der Gegenwart und den Vorstellungen eines US-Präsidenten, der daraus ein Mittelmeer-Spa machen möchte.

Said wurde Zeit seines Lebens für die Forderung nach einer Pluralität der Perspektiven in der Beurteilung der Situation in Palästina viel gelobt und ebenso oft gescholten. Er hat jedoch den Blick für die versteckten Wertungen und Interessen in den Köpfen der Kommentatoren auf arabischer wie auch westlich-israelischer Seite geschärft. Nichts passiert monokausal, und mit dieser Idee trifft er auch die künstlerische Welt von Anouar Brahem. »After The Last Sky« nennt der Oud-Meister sein aktuelles Programm als Zitat eines gleichnamigen Said-Buches von 1986, das wiederum den Titel einer zusammen mit dem Fotografen Jean Mohr entstandenen Dokumentation über palästinensische Lebensumstände einem Gedicht von Mahmoud Darwisch entlehnt hatte: »Wohin sollen wir nach den letzten Grenzen gehen? / Wohin sollen die Vögel nach dem letzten Himmel fliegen?«

Anouar Brahem stammt aus Tunis. In seiner Jugend konsolidierte sich sein eben erst aus dem Kolonialismus entlassenes Heimatland mit eigener arabischer Identität. Immer wieder streiften die Auseinandersetzungen in Palästina am Rande auch den Alltag des jungen Musikers, über befreundete Dichter, Denker, Künstler und auch über die Lektüre von Edward Saids Standardwerk »Orientalismus«. Letztlich machte Anouar Brahem, als er von den Achtzigern an langsam in seine internationale Karriere als Komponist, Oud-Experte und Bandleader startete, genau das, was in der Theorie als Möglichkeit des kulturell aufrechten Gangs angedeutetwurde. Er verknüpfte die Traditionslinien der arabischen Musik mit den Ausdrucksformen der jazzgetönten Improvisation und der europäischen Kammermusik. Seine Alben sind Grenzgänge, die sich dadurch auszeichnen, gerade nicht die Dominanz einer der Kulturen zu behaupten. Es ist Musik der Gleichwertigkeit, auf deren Entsprechung jenseits der Kunst oder zumindest deren zur Toleranz inspirierenden Wirkung Anouar Brahem insgeheim hofft.

Umso ernüchternder ist für ihn der alle Grundwerte der Humanität verneinende Gazakrieg, der sein aktuelles Programm zwischen Entstehung und Aufnahme einholte. Denn die Kompositionen entstanden im Sommer 2023, im Studio war das Quartett 2024. Neben dem Pianisten Django Bates und dem Bassisten Dave Holland kam die Cellistin Anja Lechner neu zum Team und bekam von Brahem gleich eine melodisch führende Rolle zugewiesen. Man kann im Sanglichen, Stimmhaften ihrer Melodien einen Hang zur Klage entdecken, letztlich aber ist es den Hörer:innen überlassen, wie sie die kammermusikalisch sanfte und mollgetönte Stimmung interpretieren. »After The Last Sky« als CD wird im Booklet von einem langen Essay von Adam Shatz ergänzt, der die Querbeziehungen von Musik, Poesie und Politik ausführlich darstellt. »After The Last Sky« als Musik jedoch versteht Anouar Brahem vor allem als Ausgangspunkt für das Publikum, sich eigene Gedanken machen und Gefühle spüren zu können.

Und es gehört eben auch zu seinen besonderen Fähigkeiten als Komponist, Ernst klanglich abzubilden, ohne dabei auf Deutungen der Bedeutung zu bestehen. Er betont und kultiviert den Freiraum instrumentaler Musik, die sich der Eindeutigkeit entzieht. Denn gerade dadurch schafft sie wieder Räume, die bei aller verworrener Geschichte und Gegenwart doch Perspektiven der gegenseitigen Wertschätzung in sich tragen. Ende April starten Anouar Brahem und sein Quartett zu einer umfassenden Europatournee, die diese künstlerische und feinsinnige Botschaft in die Konzertsäle bringt. Am 2. Mai steht dann auch die Isarphilharmonie in München auf dem Reiseplan. ||

ANOUAR BRAHEM QUARTET
Isarphilharmonie | Hans-Preißinger-Str. 8 | 2. Mai | 20 Uhr | Tickets: 089 54818181 | Website

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