Das lange vergessene, 1950 erschienene Buch eines ungarischen Journalisten über seine Erlebnisse in Auschwitz erscheint nun auf Deutsch.
Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz
Radikale Gegenwart
Es gibt Bücher, die will man nicht lesen. Weil man wünschte, dass das, was darin beschrieben wird, nie geschehen wäre. József Debreczenis »Kaltes Krematorium – Bericht aus dem Land namens Auschwitz« ist so ein Buch. Der ungarische Journalist wurde 1944 nach Auschwitz deportiert, zwölf Monate überlebte er in verschiedenen Konzentrationslagern. Nach seiner Befreiung schrieb er diesen Bericht, der 1950 in Ungarn veröffentlicht wurde, dann aber in Vergessenheit geriet, bis er jetzt – mehr als 70 Jahre später – wiederentdeckt und in 15 Sprachen übersetzt wurde.
Debreczeni beschreibt die Vorgänge und das Grauen in jedem Detail, hält mit penibler Präzision Erlebnisse, Beobachtungen, Gefühle und Gerüche fest. Sein Bericht ist eine Erinnerung, die auch die überwältigen wird, die meinten, schon alles zu wissen über die Schrecken der Konzentrationslager. Er macht dieses menschenunwürdige Dasein sinnlich erfahrbar und analysiert zugleich messerscharf die psychologisch grausamen Machtspiele in den Lagern, die die einen Häftlinge über die anderen stellen, ihnen eine Macht verleihen, die auf blindem Gehorsam basiert und sie selbst zu Tätern macht. Ein perfides System der Entmenschlichung, das aus Menschen Unfreie macht, ohne Namen, ohne Identität und Biografie. Arbeitssklaven.
Man merkt diesem Buch an, dass es von einem geschrieben wurde, der sein Handwerk versteht. In die Beschreibungen flicht Debreczeni immer wieder diese kurzen Sätze ein, die die Situation in wenigen prägnanten Worten auf den Punkt bringen. »Was in den Todeslagern unbekannt ist: lächeln und das Gefühl, satt zu sein«, heißt es einmal. Oder: »Der erste Instinkt, der in dem Land namens Auschwitz verkümmert, ist der des Ekels.«
Der Autor erzählt in einer radikalen Gegenwart. Er begibt sich zurück in die Geschichte, durchlebt sie noch einmal. Er und die anderen wissen nicht, was wir wissen. Nicht, wohin der Zug fährt, in dem sie zusammengepfercht sind. Nicht, was es mit der Selektion am Bahnhof auf sich hat, bei der denen, die sich zu schwach fühlen, der Transport mit dem Lastwagen angeboten wird, während die, die stark genug sind, zu Fuß gehen müssen.
Carolin Emcke schreibt in ihrem Nachwort: »Was Debreczeni erzählt: Es ist nicht auszuhalten, und es gehört doch ausgehalten. Es ist unerträglich, und es muss angenommen werden als Aufgabe. Wir müssen es als unerträglich erkennen und es zu ertragen versuchen. Es ist geschehen und dauert an.« In diesen Zeiten gilt das mehr denn je. Solidarität und Anteilnahme kosten Energie und manchmal Mut. Doch nach der Lektüre dieses Buchs ist wieder einmal klar, dass Wegsehen keine Alternative ist. Freiheit und Demokratie sind fragile Güter, auch 80 Jahre später noch. Im Gegensatz zu József Debreczeni wissen wir, was geschehen ist, was möglich war, wohin die Züge fuhren und was den Menschen angetan wurde. In diesem Wissen liegt unsere Verantwortung dafür, dass in diesem Land nie wieder Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder anderer persönlicher Merkmale selektiert werden. ||
JÓZSEF DEBRECZENI: KALTES KREMATORIUM. BERICHT AUS DEM LAND NAMENS AUSCHWITZ
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó | S. Fischer Verlag, 2024 | 272 Seiten | 25 Euro
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