Der 94-jährige Clint Eastwood legt mit dem minimalistischen Gerichtsdrama »Juror #2« seinen letzten Film vor.
Juror #2
Make It Straight!
Da ist der namenlose Revolverheld in Sergio Leones Dollar-Trilogie. Oder der einsilbige Inspektor Callahan in Don Siegels Polizeifilm »Dirty Harry«. Wo anfangen? Eastwood als Schauspieler? Eastwood als Sänger? Eastwood als Bürgermeister? Eastwood als später mit Oscars dekorierter Autorenfilmer? War er alles. Fangen wir mit einem Film an, den ihm viele Fans nie verziehen haben: 1995 kam »The Bridges of Madison County – Die Brücken am Fluss« in die Kinos, ein rührseliges Liebesdrama, das die kurze Affäre einer älteren Farmerin mit einem betagten Fotografen des »National Geographic Magazine« beschreibt. Unter der Regie von Eastwood spielten Meryl Streep und er selbst die beiden Love-Birds. Mann und Frau, wie wir sie aus Herzblutgeschichten und etwa von Rosamunde Pilcher kennen. Beide füreinander geschaffen. Und trotzdem kommen sie nicht zueinander.
Der Mann, der niemals lächelte
Wenn einer wie Eastwood ein derartiges Rührstück abliefert, dann erscheint ein solcher Tränendrücker trotzdem noch ganz passabel. Woran das liegt? Vergiss die ganze sentimentale Handlung – und schaue den beiden Hauptdarstellern einfach nur ins Gesicht. Großaufnahmen und Halbtotalen nehmen die Zuschauer mit, fesseln sie, und in diesem Fall auch die entzückenden Unterschiede der Schauspielkunst von Meryl Streep und Eastwood selbst. Streep spielt grandios auf der emotionalen Klaviatur der Lippen, schürzt sie zaghaft, formt mit ihnen Überraschung wie Schüchternheit, und signalisiert die Bereitschaft zum Kuss, so unendlich fein, schon lange bevor es dann tatsächlich dazu kommt. Sie ist ganz Mund. Mal verkniffen, mal verhärmt, mal befreit – Sinnbild eines Lebens. Und er? Als Fotograf? Eastwood ist immer ganz Auge. Auge in Auge oder Auge um Auge, wie er das in seinen Western und Krimis lange genug eingeübt hat. Der Mund ein dünner Strich, die Zähne kriegt er beim Sprechen kaum auseinander, aber mit den Augen wusste er schon immer viel zu sagen.
Mach es geradlinig!
Clint Eastwood hat seine Werke nie visuell überbordend gestaltet. Er erzählte immer geradlinig – und nicht anders ist es bei seinem letzten Film »Juror #2«. Yves Bélanger, seit »The Mule« (2018) Eastwoods Kameramann, und Joel Cox, der seit 1977 als Editor die Filmaufnahmen montiert, agieren in seinem Sinne. Nicht die Machart steht im Vordergrund, sondern die Geschichte. Die widerstreitenden Emotionen. Die Bilder dürfen sie auf keinen Fall übertrumpfen, sondern müssen in ihrem Dienst stehen. Weniger ist mehr. Das ist das Credo. Ein psychologisch fein austarierter Stoff und moralische Ambivalenz sind dem Regisseur wichtiger als die Schauwerte. Der entscheidende Faktor ist das Casting. Auch diesmal hat Eastwood wieder den Prozess der Schauspielerbesetzung selbst bestimmt. »Juror #2« folgt dem jungen, künftigen Familienvater Justin Kemp, der als Geschworener für einen Mordprozess berufen wird. Ihn spielt Nicholas Hoult, dessen Auftreten in einer ziemlich komplexen Charakterrolle man als überraschend bezeichnen kann. Der mit dem Golden Globe Award in der Kategorie Komödie/Musical für die satirische Historienserie »The Great« prämierte Brite, ansonsten aus dem »X-Men«-Universum bekannt, umgibt seinen Geschworenen mit einer zum Stoff passenden Aura innerer Isolation – und die Australierin Toni Colette als Staatsanwältin überzeugt als Gegenpart mit erfrischender Selbstsicherheit, die ihr während der Verhandlung mehr und mehr abhanden kommt.
Großes Vorbild: »Die zwölf Geschworenen« von Sidney Lumet
Nachdem Clint Eastwood vor drei Jahren für seinen eigentlich letzten Film »Cry Macho« harte Kritik abbekommen hatte – von Leere, Langeweile und entlarvender Antiironie war die Rede – beschloss der ansonsten gefeierte, damals 91-jährige Regisseur, mit einem anderen Projekt die große Bühne des Kinos zu verlassen. Sogar verlacht hatte man ihn damals, weil er in seinem hohen Alter noch die Rolle eines rund 20 Jahre jüngeren, von Frauen umschwärmten einstigen Rodeostars spielte. Unfreiwillig komisch. Auch wenn er an seiner jahrelang gepflegten Machoidentität ein bisschen kratzte, half ihm das nicht viel – Eastwood empfand »Cry Macho« fortan als Makel. So wollte er nicht abtreten. In »Juror #2« konzentrierte er sich dann allein auf die Regie, und knüpft nun mit dem packend inszenierten Drama an die Tradition der großen US-amerikanischen Gerichtsfilme an. Wie schon Sidney Lumet 1957 in seinem legendären Debüt »Die zwölfGeschworenen« setzt Eastwood auf die Kraft eines minimalistischen Kammerspiels. Zwölf Menschen urteilen über den Fall eines jungen cholerischen Mannes, der unter dem Verdacht steht, seine Freundin brutal getötet zu haben. Es gibt Zeugen für einen brutalen Streit in einer einsam gelegenen Bar. Den Genreregeln folgend auch mit einigen entsprechend inszenierten Rückblenden, erscheint die Verurteilung des mutmaßlichen Mörders als klare Sache. Doch wie ehedem Henry Fonda als Geschworener Nr. 8 bei Lumet, gibt es auch bei Eastwood einen Beeideten, der Zweifel sät. Wobei »Juror #2« alles andere als ein Remake ist – der Regisseur interessiert sich vor allem für ein individuelles moralisches Dilemma, denn der von Nicholas Hoult gespielte Justin Kemp bemerkt relativ bald, dass er auf eine unheilvolle Art und Weise in den Mordfall verstrickt ist. Eigentlich müsste er wegen Befangenheit sein Amt als Geschworener niederlegen und in den Zeugenstand wechseln. Mehr sei hier nicht verraten.
So wahr mir Gott helfe
Clint Eastwood nutzt in Zeiten manipulierter Wahrheiten seinen Film, um über demokratische Prozesse, Urteilsfindung und den Umgang mit Fakten nachzudenken. Zusammen mit seinem Drehbuchautor Jonathan Abrams seziert er psychologisch fein menschliche Schwächen wie Egoismus und Verdrängungsmechanismen, paart das mit einem kritischen Blick auf das US-amerikanische Justizsystem (von erschöpften Geschworenen bis hin zu strukturell bedingten Verfahrensfehlern) und macht klar, inwiefern es bei der Rechtsprechung sowie bei politischen Prozessen auf gesellschaftliches Rollenverhalten, Gruppendynamiken sowie das persönliche Auftreten ankommt. Eastwood, in den 1980ern Bürgermeister in seinem kalifornischen Wohnort Carmel und durchaus vertraut mit öffentlicher Meinungsbildung, gelingt mit »Juror #2« ein Film, der aus unterschiedlichen Perspektiven das Dilemma moralischer Mehrdeutigkeiten und individuellen Versagens beleuchtet. Wer hat Recht? Und wer tut Unrecht? Mit dem Ende legt er nahe, dass alle ehrlich über sich selbst urteilen sollten. Dass das eine große Herausforderung ist, zeigt immer wieder sein Blick auf den alten und neuen US-Präsidenten. Eastwood, seit Jahrzehnten ein überzeugter Republikaner, lobt zum einen Donald Trump, weil der sagen würde, was er denke, und das sei selten geworden in der Politik, und er attackiert ihn zum anderen für sein widerwärtiges Verhalten, wenn Trump in sozialen Medien Unwahrheiten verbreite und Leute beschimpfe. Was nun? Eastwoods neuer Film ist da in den letzten Bildern eindeutiger – und vor allem getragen von dieser frappierenden Einfachheit der Mittel. Der emotionale und erhellende Reichtum eines konzentrierten Blickes in ein Gesicht, auf die Augen oder den Mund, ist (wie ehedem in »Die Brücken am Fluss«) so schlicht wie faszinierend. ||
JUROR #2
USA 2024 | Regie: Clint Eastwood | Buch: Jonathan Abrams | Mit: Nicholas Hoult, Toni Colette, J.K. Simmons, Kiefer Sutherland | 114 Minuten | Kinostart: 16. Januar | Website
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