Auch in diesem Jahr bekommen Sie wieder einige Buchtipps von unseren Autoren. Hier ein kleiner Vorgeschmack, 17 weitere finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Buchtipps zu Weihnachten 2024
Untern Baum
HAN KANG: UNMÖGLICHER ABSCHIED
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Aufbau, 2024 (erscheint am 16. Dezember)
315 Seiten | 24 Euro | Website
TIEF AUS DEM VERGESSEN
Gyeongha ist aus der Spur. Einsam, erschöpft, von Albträumen verfolgt. Als Inseon, mit der siefrüher eine innige Freundschaft verband, einen schweren Unfall hat und in Seoul im Krankenhaus liegt, fliegt Gyeongha auf die Insel Jeju, um Inseons Haus und ihren Vogel zu versorgen. Ihre Odyssee durch die nächtliche Schneelandschaft, ihre Ankunft im Haus wird zur Reise in die dunkle Vergangenheit der Insel, deren Opfer auch Inseons Familie war. Die »Roten« wurden »ausgelöscht« im Kalten Krieg. Die Ich-Erzählerin findet Artikel, Fotos, Dokumente, Briefe, die Inseons Mutter gesammelt hat. Tief aus dem Vergessen holt Gyeongha Erinnerungen, schemenhaft wie Schattenrisse und zugleich so detailliert und nah, dass sie meint, Inseon säße neben ihr wie vor Jahren. Was ist Illusion, was real? Han Kang skizziert zarte Linien, zu füllen sind die freien Flächen beim Lesen. Erst gegen Ende kommt die Wahrheit zutage. Die Südkoreanerin, zu Recht Literaturnobelpreisträgerin 2024, ist dafür bekannt, Abgründe und Traumata zu benennen. Wo die Zeitzeugen verschwinden, bleibt die Literatur. Han Kang verarbeitet ihre Zweifel am Menschen im Schreiben. Sie bannt Grausamkeit in Poesie, ohne etwas zu verharmlosen, und entwickelt einen unvergesslichen Sog und Zauber. Diesem schonungslosen, leisen Buch kann man sich nicht entziehen. »Unmöglicher Abschied« gilt für diese Geschichte einer Freundschaft und für die Lektüre dieses Buches. || CORNELIA ZETZSCHE
CAROLINE PETERS: EIN ANDERES LEBEN
Rowohlt, 2024 | 240 Seiten | 23 Euro
Website
EIGENE WEGE
»Manchmal haben Buchstaben Sensen und scharfe Klingen und sind gefährlich.« Mit diesem Satz wachsen die drei Töchter von Hanna, der Lyrikübersetzerin, auf. Die jüngste erzählt das Leben ihrer Mutter, die drei Männer hatte, die die drei Väter der Töchter wurden, und versucht, sich aus der Distanz zwischen Leben und Tod ein verlässliches Bild zu machen. Dass diese Distanz keine sichere ist und Erinnerungen oft verwackeln, erlebt nicht nur die Tochter, sondern mit ihr auch der Leser. Bis Hanna endlich einen eigenen Raum hat, bis sie keine beigen Kleider mehr trägt und nicht mehr zuhören muss, sondern selbst gehört wird, muss fast ein ganzes Leben vergehen. Hannas Energie, die lange nicht dort strömen kann, wo sie hinwill, läuft regelmäßig über wie ein eingehauster Fluss. Ihre drei Männer verstehen sie nur fragmentiert, ihre Töchter retten sich an ihre eigenen Ufer. Am schwersten hat es die jüngste: Sie rebelliert, um gesehen zu werden, sucht Abstand und bleibt ihrer Mutter unausweichlich nah, ohne ihr wirklich nahezukommen. Caroline Peters beschreibt tastend ein Familienleben, das so verrückt ist wie die meisten Familien es eben sind, aus dem jeder anders versehrt herauskommt und seine Geschichte nicht zurücklassen kann. Die Jüngste schafft es nicht nur, sich eine eigene Rolle im Leben zu erarbeiten, sie versöhnt sich auch mit dem Tunnelblick ihrer Mutter, zwischen »Schuld und Zorn und der Liebe dazwischen«. Es ist, wie es ist. »Ja«, sagt Hanna. »Aber wie soll ich das meinen Töchtern erklären?« || CHRISTIANE PFAU
BERND MATTHEUS: CIORAN. PORTRÄT EINES RASENDEN SKEPTIKERS
Matthes & Seitz, 2024 | 367 Seiten | 18 Euro | Website
SYMPATHISCHER LEBENSVERÄCHTER
Vielleicht ist er nur eine Fußnote der Philosophiegeschichte, laut eigener Aussage sogar ein »Mensch ohne Biographie«. Trotzdem ist Emil Cioran (*1911 in Rumänien) einer der Autoren, dessen Zeilen niemanden kalt lassen, wie man auch zu ihnen stehen mag. Vor ihm infizierte keiner seine Leser mit einer derartigen Überdosis an Nihilismus, Pessimismus und ungetrübter Lebensverneinung. Werke wie »Lehre vom Zerfall« und »Vom Nachteil geboren zu sein« sind Dokumente eines von Depression und Schlaflosigkeit geprägten Lebens – und genau wie die Möglichkeit des Selbstmords ein Abwehrzauber gegen diesen. Nun ist endlich Bernd Mattheus’ »Porträt eines rasenden Skeptikers« von 2007 wieder zu haben. Er, der den »freundlichen Misanthropen« noch kennenlernte, nähert sich dieser Figur mit dem richtigen Maß an Bewunderung und Abstand. So entsteht ein Bild voller Widersprüche: Schaffensdrang und Lethargie, Mystizismus und Atheismus, Defätismus und Faschismus, einer »Krankheit«, von der er jedoch glaubwürdig geheilt war. 1995 verstarb der Philosoph in französischer Wahlheimatlosigkeit nicht durch eigene Hand, sondern an Alzheimer. Dieses Buch ist ein faszinierender und irritierender Einblick in ein beschädigtes Leben. Und ein Blick in Ciorans Werk sollte sich anschließen. Sitzt man selbst auf den Gipfeln der Verzweiflung, sind seine Worte tröstender als die aller systemsüchtigen Akademiker, naiven Utopisten und Heilsprediger jeglicher verblasster Couleur. || MATTHIAS PFEIFFER
PETER PETER: BLUTORANGEN. EINE REISE ZU DEN ZITRUSFRÜCHTEN ITALIENS
Verlag Klaus Wagenbach, 2024 | 144 Seiten | 22 Euro | Website
DUFT DER ZITRUSFRÜCHTE
Um gut durch die kalten Tage zu kommen, helfen nicht nur Vitamine, sondern auch Reisepläne. Da passt das neue Buch von Peter Peterperfekt. Der Münchner Gastrojournalist zeigt uns die Welt der Zitrusfrüchte Italiens. Die Route führt vom Gardasee bis nach Sizilien, mit einem kurzen Abstecher ins französische Menton an der Côte D’Azur. Immer wieder empfiehlt Peter Eisdielen, Bars oder Limonadenstände. Zudem präsentiert er ausgewählte Rezepte für Blutorangensalat, Zitronentarte oder Limoncello. Ein Traum! Was Italien heute besonders macht, ist die Kultivierung von älteren und selteneren Zitrusfrüchten. So etwa die berühmte Amalfi-Zitrone oder die Cedri aus Kalabrien. Anekdotenreich berichtet Peter Peter von besonderen Cedri, die ein zentraler Teil des jüdischen Sukkot-Festes sind; von den duftenden Gärten der Medici, der prachtvollen Darstellung von Zitrusfrüchten in der italienischen Malerei und von ihrer symbolischen Aufladung in der deutschen Italienromantik. Peter Peter erzählt auch von Orangenpapier-Motiven und der Erfindung des Eau de Cologne durch einen italienischen Parfümeur. Sein Buch führt ein in die faszinierende Kulturgeschichte der Zitrusfrüchte – eine großartige Reisevorbereitung. || TILL SCHMIDT
Hier noch ein paar Buchtipps aus dem letzten Jahr
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