DAS WISSEN DER WELT
WIE DER BR NACH DEM PROGRAMM NUN AUCH SEINE 100-JÄHRIGE BIBLIOTHEK SCHLEIFT
Als der Bayerische Rundfunk – zusammen mit dem Münchner Lustspielhaus – Anfang November die Bayerischen Kabarettpreise vergab und den multimedialen Rahmen dazu bot, da durfte Harald Lesch per Video einen der Gewinner ansagen: Satiriker Florian Schröder als Künstliche Intelligenz in Menschenform kurz vor der Vollendung! Eine solche KI-Mutation komme von Mut, erklärte der Astrophysiker und Wissenschaftsstar Lesch und stand inmitten von Büchern. Er wurde streichholzklein in der Flucht zweier Bücherregale und stützte sich auf Bücher, auf das Wissen der Welt.
Dieses Video ist bald schon ein historisches Dokument, denn der Drehort war – ein Schelm, wer Böses dabei denkt – die Bibliothek des BR, die damit zwar unsterblich wurde, aber demnächst Geschichte sein wird: Die 100jährige Sammlung mit über 70.000 Bänden inklusive Erstausgaben, Raritäten, alte Büchern aus dem 16./ 17. Jahrhundert und Schriften aus den Anfangsjahren des Radios 1922/24, als der BR noch Deutsche Stunde in Bayern hieß, all das wird Ende November endgültig aufgelöst. Schon seit Mai hat sie gewaltige Lücken, zur Freude diverser Institute und eines Leipziger Großantiquars, der auch andere ARD-Bibliotheken für’n Appel und n’Ei abholt und damit sein Geschäft macht, aber wer braucht heute schon „alte“ Bücher?!?
Wer Liebesbriefe von Künstler oder Berichte von Bergsteigern suchte, Wissenswertes über Bayerns Brauchtum, Deutsche Kolonien oder Biographien von Marilyn Monroe bis Baselitz, wurde hier fündig: Kunstbände, Ausstellungskataloge, Reiseberichte, Memoiren, Anthologien, Romane und und und, kurzum: Es war eine Wunderkammer, die optisch wie haptisch Staunen machte. Ein vom Bibliothekar Thomas Zunhammer und seinen Kolleg*innen fein kuratierter und sorgfältig gepflegter Bücher-Schatz, der zeigte, wie, womit und worüber Journalist*innen aus fünf BR-Generationen der Hörerschaft Wissen vermittelt haben. Und der immer wieder gerne die Kulisse für Videos und Filme war. Als T.C. Boyle dort interviewt wurde, staunte der berühmte US-Schriftsteller nicht schlecht über eine ganze Wand mit allen Ausgaben der Anderen Bibliothek!
Tempi passati. Die einzigartige Sammlung wird in alle Winde zerstreut. Die Reflexionen des liberalen Politikers, Industriellen und Schriftstellers Walther Rathenau von 1908 finden Zuflucht im Institut für Zeitgeschichte in München, 300 Gedichtbände gehen ans Lyrik Kabinett, die roten Originalhefte der Fackel von Karl Kraus von1899 bis in die 1930er Jahre ans Archiv der Münchner Arbeiterbewegung, Teile der Bücher von und über Musiker*innen ans Notenarchiv des BR, die Bavarica ans Zemuli, das Zentrum für Volksmusik, Literatur & Popularmusik im oberbayerischen Bruckmühl, das seine Bibliothek ausbaut und den Zuwachs freudig aufnimmt. Der „Rest“, rund 50.000 Bände, also Zweidrittel des Bestands, landet beim Großantiquar im Leipziger Gewerbegebiet.
Es ist, als werde eine Familie auseinandergerissen. Es ist das Ende der 100-jährigen Geschichte dieser Institution, die zugleich Bibliothek und Archiv ist. Imprint Stempel belegen auch den Wandel des Hauses selbst mit seinen wechselnden Namen, von der Deutschen Stunde in Bayern 1922 über den Reichsender München im nationalsozialistischen Deutschland und Radio München 1945 unter amerikanischer Besatzung bis zum Bayerischen Rundfunk als Tochter der ARD heute.
Bücher blieben nach wie vor zentrale Quelle unserer Recherchen, Bestellung und Lektüre seien nicht von einer eigenen Hausbibliothek abhängig, ließ BR-Verwaltungsdirektor Albrecht Frenzel wissen und bat um Akzeptanz – nicht um Verständnis! – in „wirtschaftlich schweren Zeiten“. Der Protest kam prompt: Hier habe man „mit minimalem Gewinn ein Maximum an Verdruss erreicht“, „konkret: eine halbe Stelle eingespart und damit eine intellektuelle Bastion des BR geschliffen“ und das in „papier- wie geistlosen Zeiten“, „armselig, jämmerlich, peinlich, hirnlos, geistlos, schäbig“ und „frech“ hieß es in den Kommentaren – vergebens, die Geschäftsführung schwieg.
Bibliotheken sind unser kollektives Gedächtnis, das wissen wir seit der berühmten Bibliothek von Alexandria in vorchristlicher Zeit. Heute entstehen preisgekrönte Filme wie Eine Bibliothek der Welt über 30.000 Bücher, das Vermächtnis von Umberto Eco.
Der Verdacht liegt nahe, dass die BR-Chefetage von KI-Mutanten bespielt wird, die so unvollendet oder fatal programmiert wurden, dass ihnen der Mut abhandenkam, im 420-Millionen-Neubau am Rande der Stadt (inkl. Umzug), neben mobilen Arbeitsplätzen in papierlosen Großraumbüros, Platz für diese einzigartige Hausbibliothek zu reservieren, die vermutlich älteste der ARD. Sonst wüsste eine promovierte Historikerin wie die Intendantin des BR, dass Bücher noch immer ein Tresor und eine Säule des aufgeklärten, demokratischen Denkens sind – oder zumindest ihr Dekor!
So aber schließen zum Monatsende die Pforten der BR-Bibliothek nach 100 Jahren. Der Studiobau, in dem sie zum Teil untergebracht war, ein Gebäude mit Modellcharakter und 60-jähriger Konzert- und Radiogeschichte, steht zum Verkauf oder frei zum Abriss, wie derzeit das gesamte System des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks – unter Applaus der Politik rechter Hand und fast unbemerkt von der Öffentlichkeit übrigens, die gerade andere Sorgen hat als eine Hundertjährige.
60 Jahre und kein bisschen leise“ – Die kreativsten Mauern Bayerns, das Haus der Millionen Töne Benefizabend für den Erhalt des BR-Studiobaus
Mit Gerhard Polt, Konstantin Wecker, Yaara Tal & Andreas Groethuysen, Fritz Egner, Evelyn Huber, Holger Paetz, FEH, Simon Popp & Miriam Hanika, Hanns Meilhamer, Thomas Loibl, Rita Russek, Uugan Tsend Ochir von Egschiglen aus der Mongolei, der Unterbiberger Hofmusik und anderen.
19. November 2024, Carl Orff Saal im Fat Cat (ehemals Gasteig) Beginn: 19.30 Uhr (Einlass 19.00)
Karten
Infos
Das könnte Sie auch interessieren:
Liv Strömquist: Interview zur Graphic Novel »Das Orakel spricht«
Der rote Diamant | MF Online Deluxe
»Mitte/Rechts«: Autor Thomas Biebricher im Interview
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton