Das Münchner Lenbachhaus erinnert zum 100. Jubiläum an den Surrealismus – als weltweite politische Bewegung gegen Faschismus.
Surrealismus. Aber hier leben? Nein Danke
Mit Revolvern in den Händen
Schlechte Zeiten sind gute Zeiten für die Kunst. Das gilt für Literaten wie für Maler. In der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen, kurz vor der drohenden Weltwirtschaftskrise, stürzten sich die Künstler in das Abenteuer Surrealismus. Nach dem Motto: Wenn man die reale Welt nicht aushält, muss man sich eine Gegenwelt erfinden. Fremdartig und unwirklich, eben surreal.
Angetrieben von literarischen Zirkeln in Paris und dem Nonsens des Dada, etablierte sich die neue Kunstrichtung seit den Goldenen Zwanziger Jahren in Europa. Ihr Strippenzieher war der Literat André Breton. Genau vor 100 Jahren, am 15. Oktober 1924, veröffentlichte er sein surrealistisches Manifest, in dem er »die Allmacht des Traums« und das »zweckfreie Spiel des Denkens« propagierte. Er scharte eine Reihe von Künstlern, meist Männer, um sich und diskutierte über den Nabel der Kunstwelt. Der lag zu dieser Zeit in Paris, von wo aus man auf die Welt blickte. (Nicht ohne Rivalität: Der Dichter Yvan Goll hatte am 1. Oktober sein »Manifeste du Surréalisme« herausgebracht; seine Gruppe freilich zog den kürzeren.) Später bildeten sich surrealistische Zirkel in Sao Paulo, London, Prag und Budapest; Künstleraus Haiti und Puerto Rico, Japan und Korea bis hin zu Ägypten und Mosambik verarbeiteten wie die Surrealisten ihre Sehnsüchte und Albträume in Bildern. Und sie wandten sich in ihren Schöpfungen nicht nur gegen gesellschaftliche Normen, sondern auch gegen politische Systeme und den aufkeimenden Faschismus.
Der Surrealismus als politische Bewegung – genau das versucht das Münchner Lenbachhaus in seiner ambitionierten Schau »Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus + Antifaschismus« zu erkunden – mit einer Fülle von bislang wenig bekanntem Material, darunter digitalisierte Film und Tonaufnahmen, Gemälde sowie selten zu sehende und zu lesende Dokumente. Weltweit haben die Kuratoren Stephanie Weber, Adrian Djukic und Karin Althaus die Exponate von Museen, Institutionen und Privatsammlern zusammengeliehen. Sie blicken dabei aus heutiger Sicht auf die Bewegung. Im Mittelpunkt stehen viele Frauen, schwarze Künstler und Aktivisten. Sie erzählen Geschichten wie die von Claude Cahun und Marcel Moore, einem Liebespaar, das bürgerlich Lucy Renée Mathilde Schwob und Suzanne Malherbe hieß und seit 1922 in Paris einen künstlerischen Salon führte. Ab 1937 lebten sie auf Jersey und betrieben dort, als die Wehrmacht die kleine Kanalinsel besetzte, antifaschistische Propaganda im Miniaturformat. Unbemerkt stecken sie den deutschen Soldaten zusammengefaltete Botschaften in die Uniformjackentasche, darauf stand etwa: »Ich glaube, die Wellen verschlungen / Am Ende Schiffer und Kahn. / Und das hat mit seinem Brüllen / Der Adolf Hitler getan.« Das queere Paar wird für seine »Papier-Geschosse« interniert und zum Tode verurteilt, doch das Ende des Kriegs verhindert den Vollzug der Urteile.
Überhaupt, Surrealistinnen sind die Entdeckung der Schau, in der auch die berühmten Männer Pablo Picasso und Max Ernst, Rene Magritte und Joan Miró glänzen: Bilder der exzentrischen Malerin Leonora Carrington, die sich mit 19 in Paris in den 26 Jahre älteren Künstler Max Ernst verliebte und ihm nach Paris folgte, verstören. Die rebellische Tochter aus reichem Hause wurde später von ihrem Vater in eine Nervenheilanstalt eingewiesen, konnte aber entfliehen und ging über New York nach Mexiko, wo sie Frida Kahlo traf. Oder die Amerikanerin Lee Miller, die dank Kate Winslet in dem viel gelobten Biopic im Kino jetzt auch jüngere Fans hat. Sie fotografierte erst in Dachau tote SS-Gefängniswärter, dann Biertrinker im Münchner Hofbräuhaus und stieg schließlich in Hitlers Wohnung in die Badewanne für ein Selfie. Dass sich in Berlin kurz darauf ein Kabarett mit dem Namen »Die Badewanne« schmückt, erfährt man nebenbei Eine Entdeckung ist auch die traumwandlerische Landschaft »Verlassene Höhle« der tschechischen Malerin Toyen alias Marie Čermínová, die in ihrer Wohnung den jüdischen KünstlerKollegen Jindřich Heisler versteckt. Und da ist die heute fast unbekannte surrealistische Gruppe »La Main à plume«, ein Haufen junger Maler, Poeten, unter ihnen Juden und Trotzkisten. Sie entschieden sich in Paris zu bleiben und im Untergrund zu kämpfen. Die zarten Farben ihrer Publikationen haben das magna design studio zu ihrem Farbkonzept für die quer durch den Kunstbau mäandernden Textfahnen inspiriert. Ein frisches, freches Design, dass mit den von der Decke hängenden Videobildschirmen auch ein jüngeres Publikum anspricht.
Nicht umsonst hat sich das KuratorenTrio für den Titel bei der Band Tocotronic bedient. »Aber hier leben? Nein danke.« ist nicht nur ein Popsong von 2005, sondern auch ein Zitat, das die österreichische Sängerin Gustav im selben Jahr vor laufender TV-Kamera verbreitete. Sie bedankte sich damals mit exakt diesen Worten für die höchste österreichische PopAuszeichnung, den »Amadeus«. Gemeint war ihr Statement als Absage an die damalige rechte Politik der schwarzblauen Regierung unter dem Konservativen Wolfgang Schüssel und dem Rechtspopulisten Jörg Haider.
Mit ähnlicher Chuzpe wehrten sich die Surrealisten gegen faschistoide Regime. Denn viele konnten nicht ausstellen und nicht veröffentlichen, hatten kein Geld und fürchteten um ihr Leben. In Frankreich kämpften sie im Untergrund gegen den Faschismus und im Spanischen Bürgerkrieg stellten sie sich auf die Seite der Republikaner. Sie knüpften im Exil Kontakte zu Leo Trotzki, zum afrokaribischen Schriftsteller Aimé Césaire auf Martinique oder zum Ethnologen Claude LéviStrauss und entwickelten wie der gebürtige Kubaner Wifredo Lam eine tropische Malerei. In Marseille warteten viele im Winter 1940/41 auf ihr Schiff ins Exil nach Martinique. Mit an Bord waren die Schriftstellerin Anna Seghers, die in ihrem Roman »Transit« davon berichten wird, der linke Revolutionär und Schriftsteller Victor Serge, die Fotografin Germaine Krull, die alle zusammengebracht hatte, und André Breton. Der Vordenker der Surrealisten hatte schon 1930 in seinem zweiten Manifest beschrieben, wie er sich wehren wollte: »Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings in die Menge zu schießen.« ||
ABER HIER LEBEN? NEIN DANKE. SURREALISMUS + ANTIFASCHISMUS
Lenbachhaus, Kunstbau | U-Bahnhof Königsplatz, Zwischengeschoss | bis 2. März 2025 | Wer unter 18 Jahre alt ist, hat freien Eintritt. | Di bis So 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr
Die rund 1000-seitige Publikation »Surrealismus + Antifaschismus. Anthologie« kostet im Museum 54 Euro
Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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