In »The Room Next Door« müssen sich zwei Freundinnen mit dem Sterben auseinandersetzen. Pedro Almódovar gewann mit seinem eleganten und intensiven Kammerspiel den Goldenen Löwen in Venedig.

The Room Next Door

Sanfte Konfrontation

the room next door

Pedro Almódovars große Kunst: die Visualisierung von Gefühlen | © El Deseo

Bei Pedro Almódovar geschehen Dinge mit beiläufiger Unausweichlichkeit. Das geht dann so: Die erfolgreiche Schriftstellerin Ingrid (Julianne Moore) signiert in New York in einer Buchhandlung gerade ihr neues Buch über den Tod »On Sudden Deaths«, als plötzlich eine Bekannte vor ihr steht und eine Widmung will. Die beiden Frauen umarmen sich und sprechen kurz, obwohl noch viele Menschen anstehen, die auch ein Autogramm wollen. Die Bekannte erwähnt Ingrids alte Freundin Martha (Tilda Swinton), sagt, dass diese mit unheilbarem Gebärmutterkrebs im Sterben liege. Ingrid ist bestürzt. Die beiden Frauen hatten sich vor vielen Jahren aus den Augen verloren. Doch nun, im Angesicht des Todes, beschließt Ingrid spontan, Martha im Krankenhaus zu besuchen.

Schon nach ein paar Minuten des Films begegnen sich die beiden wieder. Überrascht, überwältigt, aber bald auch vertraut in der alten Bereitschaft, tiefergehende Gespräche zu führen – in einem Krankenzimmer, wie es sich der normale Kassenpatient in seinen kühnsten Träumen nicht schöner vorstellen kann: mit Blick auf die New Yorker Skyline, und so hell und freundlich eingerichtet, dass es dem Betrachter schwerfällt, bald den Unterschied zu Marthas Wohnung zu erkennen, wo sich die beiden Freundinnen dann später auch treffen werden. Produktionsdesignerin Inbal Weinberg hat Almódovars Stil verinnerlicht: Leuchtende Grundfarben (Blau, Rot, Gelb), klare Geometrien kombiniert mit floralen Mustern.

An dieser Stelle des Films, nach rund einer Viertelstunde, entscheidet sich, ob man »The Room Next Door« weiter mit Hingabe folgen will oder ob man eine gewisse Distanz entwickelt, weil alles doch etwas zu gestylt und konstruiert melodramatisch erscheinen mag, vor allem, wenn es draußen auch noch zu schneien beginnt, und – weil die Sonne tief unter den Wolken durchleuchtet – vor dem Fenster rosa-violette Schneeflocken federleicht in der Luft tanzen.

Eine Kluge, auf das Wesentliche reduzierte Annäherung an den Tod

Typisch Almódovar. Nur diesmal eben doch ein bisschen anders. Vielleicht hat ihn das ungewohnte Umfeld dazu animiert, oder auch die fremde Sprache. Zumindest setzt der spanische Regisseur seine stilistischen Überhöhungen noch etwas prägnanter ein als sonst, dabei konzentrierter, purer – und so lässt sich sagen: Das Kammerspiel (und ein solches ist es) erweist sich als das wohl bisher abstrakteste Werk im Almódovar-Kosmos, als eine kluge, auf das Wesentliche reduzierte Annäherung an den Tod.

»The Room Next Door« ist ein Film, der hauptsächlich aus den langen Gesprächen zwischen Ingrid und Martha besteht. In ihnen geht es nicht nur um Leben und Sterben, sondern auch um Freundschaft, Beziehungen, familiäre Muster und die Nähe, die Menschen zulassen oder nicht. Martha bittet Ingrid schließlich, sie bei ihrem Freitod zu begleiten. Sie habe sich im Darknet eine entsprechende Pille besorgt. Die Freundin ist entsetzt, sie selbst hat große Angst vor dem Tod, und will Martha das Vorhaben ausreden, willigt dann aber doch ein. Der Plan ist folgender: Die beiden Frauen fahren für vier Wochen in ein abgelegenes Ferienhaus, in ein Naturschutzgebiet rund zwei Stunden von Manhattan entfernt. Es gibt einen Pool, und die Möglichkeit zu Spaziergängen in den nahen Wäldern. Das Haus erweist sich als ein architektonisch aufregendes Gebilde, in einzelnen Kuben an einen Hang gestaffelt und mit Ausblicken in die Natur, die von den großflächigen Glasfronten wie gerahmt erscheinen.

Wie hat Pedro Almódovar das inszeniert – mehr als Tragödie oder als stille Tragikomödie? Er hat sich für einen vom Ton her nie aufgewühlt dramatischen, sondern eher leichten Film entschieden, eine Etüde, es wird auch gelacht, aber das Ganze ist vor allem auf eine wundersame Art und Weise intensiv – und so gefilmt, wie Almódovar das immer schon macht: Mit einer eleganten Kamera, die sich auf Gesichter fokussiert, mit schönen Einrichtungsgegenständen und Möbeln, die wie choreografiert wirken – und mit großartigen Schauspielerinnen. Mehr noch als in anderen Filmen von ihm (und Almódovar hat ja noch nie einen schlechten gemacht) wird viel geredet. Beim Filmfestival in Venedig, wo »The Room Next Door« am Ende den Goldenen Löwen gewann, war während der Premiere im Palazzo del Cinema eine unglaubliche Spannung im Publikum zu spüren, das auf eine sanfte, aber nie banale Art und Weise mit dem Tod konfrontiert wurde.

Die Kunst liegt dabei in der ungemein stimmigen Visualisierung von Gefühlen

Almódovar, der gerade seinen 75. Geburtstag gefeiert hat, beschäftigt sich seit ein paar Jahren verstärkt mit der Endlichkeit des Lebens, in Filmen wie »Leid und Herrlichkeit« oder »Parallele Mütter«. In Letzterem ist es eine von Penélope Cruz gespielte Fotografin, die die Exhumierung eines Massengrabes aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs initiiert. Die abschließende Einstellung des Films zeigt, wie die auf Befehl Francos Erschossenen gelegen haben, bevor das Grab zugeschüttet wurde. Und in dem autobiographischen Drama »Leid und Herrlichkeit« setzt sich ein alternder Filmregisseur mit seinem bisherigen Leben und der unausweichlichen Sterblichkeit auseinander. Antonio Banderas wirkt als Almódovars Alter Ego so fragil und verletzlich wie jetzt Tilda Swinton als die todkranke Martha. Mit dem Film begann 2019 die Schaffensphase des Regisseurs, in der sein Blick auf die Welt nicht mehr von der Lust am melodramatischen Exzess bestimmt wird, sondern sich ganz auf die tieferen Emotionen seiner Figuren verdichtet. Es ist der Weg, den Almódovar von der aufgekratzten Hysterie der »Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs« bis zur kontemplativen Kraft einer filmischen Einkehr zurückgelegt hat.

Seine große Kunst liegt dabei in der ungemein stimmigen Visualisierung von Gefühlen. Martha möchte, wenn sie stirbt, nicht allein sein. Sie will jemanden um sich haben. Ingrid soll ihr beim Sterben gar nicht konkret helfen, was ja eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen könnte – sie soll einfach im Zimmer nebenan sein. Wann genau sie die Todespille nimmt, möchte Martha nicht festlegen. Die Idee ist es, ihrer inneren Stimme zu folgen. Um der Freundin zu signalisieren, dass es nun passiert sei, vereinbaren die beiden, dass Martha in der Nacht, in der sie sich das Leben nimmt, ihre Schlafzimmertür schließen wird, sodass Ingrid, die ein Geschoss tiefer schläft, sofort Bescheid weiß. Jeden Morgen, wenn sie die Treppe hochkommt, schaut sie voller Furcht auf die Tür – und wirkt fundamental erleichtert, wenn diese noch offen steht. Juliane Moore spielt diese wiederkehrenden Momente mit einer solidarischen Präsenz, die umwerfend ist. In seiner Rede in Venedig meinte Almódovar, vor allem seine beiden Hauptdarstellerinnen hätten diesen Film gemacht – und dann fügte er, den Goldenen Löwen in der Hand, noch an, es müsse endlich Gesetze geben, die es allen Menschen ermöglichten, selbstbestimmt über ihren Tod zu entscheiden.

Ein Film, der eine große Botschaft verkünden will, ist »The Room Next Door« deshalb nicht geworden – er besitzt eine künstlerische Offenheit, die belebend wirkt. Überhaupt schwebt er trotz seines schweren Themas eher, statt Geist und Seele niederzudrücken. ||

THE ROOM NEXT DOOR
Spanien 2024 | Buch & Regie: Pedro Almódovar | Mit: Julianne Moore, Tilda Swinton, John Turturro, Alessandro Nivola | 107 Minuten | Kinostart: 24. Oktober | Website

Weitere Kritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


Das könnte Sie auch interessieren: