Das Rodeo-Festival 2024 zeigt zwölf Stücke an zehn Spielorten und eine Münchner freie Szene, der es an außergewöhnlichen Ideen nicht mangelt. Man kann sogar übernachten.

Rodeo 2024

All Night Long

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»Hey Körper«: Sahra Huby teilt den Körper auf © Gabriela Neeb

Das Alleinstellungsmerkmal von Münchens freier Szene ist bekanntlich das Fehlen eines Produktionshauses. Dezentraler sind die darstellenden Künste in keiner deutschen Großstadt aufgestellt. Um sie wenigstens alle zwei Jahre gebündelt sichtbar zu machen, dafür gibt es seit 2010 Rodeo. Das Tanz-, Theater- und Performancefestival der Stadt hat seither schon etliche Metamorphosen erlebt. 2022 ging die Leitung erstmals an das Team des HochX, das sowieso das Gros der städtisch geförderten Arbeiten zeigt. Damals entfielen auf den Rodeo-Teil nur sechs der eingeladenen Produktionen, da zeitgleich auch das überregionale Nachwuchsfestival Freischwimmen zu stemmen war.

Heuer gibt es wieder Rodeo pur. Doch in der Auswahl, die Ute Gröbel, Antonia Beermann und Anna Donderer kurz vor der Sommerpause präsentiert haben, schreibt sich die Vorliebe der Kuratorinnen für ungewöhnliche Narrative und Formate fort. In deren Zentrum steht der Körper, den rechte und andere Feinde der pluralen Demokratie zunehmend als ideologisches Schlachtfeld vereinnahmen. Und – so Beermann – die Frage, »wie unsere Bubbles wieder durchlässig werden können«. Zwölf »Stücke, die uns guttun werden«, hat sie mit ihren Kolleginnen aus rund 100 gesichteten ausgesucht. Dabei ist ihnen eine lokale Szene begegnet, die »voll in ästhetisches Risiko geht und trotzdem nahbar und zugänglich ist«. Erstmals, und das war aufgrund der rasanten Entwicklung der Sparte überfällig, sind auch zwei Arbeiten für Kinder und Jugendliche unter den Auserwählten.

Mit Alfredo Zinolas »Things am Ende der Welt« wird eine außergewöhnlich feinfühlige Arbeit im noch jungen Feld des Theaters für unter Dreijährige gewürdigt, die vorbehaltlose Neugier fördert. Und in Sahra Hubys »Hey Körper?!« kommen gleich zwei Erfolgsgeschichten zusammen: Die des zwischen München, Hamburg, Potsdam und Dresden aufgespannten Produktionsnetzwerks explore dance, das im Oktober mit dem Tanzpreis Deutschland für herausragende Entwicklung im Tanz geehrt wird. Und die von Huby selbst, die sich im November den Münchner Förderpreis Tanz abholen darf. Als Ausnahmetänzerin ist sie bereits wohlbekannt. Wie sie als Choreografin und Körperforscherin denkt, kann man bei Rodeo auch in der interaktiven Ausstellung zu Hubys »Atlas-Project« erfahren. Und zwar gerne am eigenen Leib.

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»Orchids«: Léonard Engels sucht neue Männlichkeit © Gabriela Neeb

Eine weitere Erfolgsgeschichte, von denen gerade die hiesige Tanzszene einige zu erzählen hat, gibt es gleich zur Festivaleröffnung am 9. Oktober: Zufit Simons »Radical Cheerleading« bringt aufs Dynamischste feministischen Protest und fluffige Pompons zusammen. Der rhythmisch pulsierende Abend mit einigen für Simons trockenen Stil ungewöhnlich expressiven Soli hat in den letzten Monaten etliche Festivaleinladungen und Preise abgeräumt. Fast introvertiert kommt dagegen Léonard Engels’ »Orchids« daher, worin sich der schon 2022 mit seiner Drehtanzstudie »Parotia« eingeladene Tänzer und Choreograf auf die Suche nach einer neuen Form der Männlichkeit macht. Die fünfte Tanzproduktion stammt vom Duo Rykena&Jüngst und ist zugleich die einzige Uraufführung dieser Rodeo-Ausgabe, die von jungen Akteur*innen und Sparten- und Genregrenzen überschreitenden Arbeiten dominiert wird. Viele Performer*innen setzen sich körperlichen Extremsituationen aus. Manchmal müssen auch die Zuschauer*innen mit anpacken.

»Heimsuchung«: Ines Hollinger kämpft mit dem Bild der idealen Mutter © Daniela Pfeil

Und ganze drei Mal wird das übliche Zeitkorsett gesprengt. Ohne Worte kommt Ines Hollinger in ihrer One-Woman-Show »Heimsuchung« aus: Was kann frau auch salbadernd oder gar argumentativ ausrichten gegen das Bild von der idealen Mutter, während sie mit faktischen Zumutungen wie Windelbergen, auslaufenden Brüsten und postnatalen Schweißbächen kämpft. Da hilft eher der Vorschlaghammer und schonungsloser Humor. Die Kraft, die aus dem Selbstdurchlittenen kommt, haben auch die »Caregivers« – auf Trockendeutsch: »Betreuungspersonen« – im Gepäck, mit denen Judith Huber und Angelika Krautzberger als Teil des neuen CommunityTheater-Projekts »Initiative Ausstellungspark« ein Stück zum Pflegenotstand entwickelt haben. Für ihre Recherche zu »The Ultimate Caregivers Playlist« haben die beiden Theaterfrauen Songtexte, Seniorenzentren und eine Pflegeausbildungsklasse durchforstet. Dort haben sie ihre Laienspieler, sogenannte »Experten des Alltags«, gefunden: vier Pflegende und zwei Senior*innen. Eine davon ist Inge, seit sieben Jahren im Pflegeheim, die bei der Programmvorstellung im Juli erzählte, wie froh sie über die neue Aufgabe sei. Die von Huber versprochene Zuschauerbetreuung beinhaltet Musik von Mitsch Gumpinger und Lyriks von Lena Gorelik, es wird aber auch Bingo gespielt!

Auch Caner Akdeniz arbeitete sich bereits während seines Regiestudiums an der Bayerischen Theaterakademie sehenswert an Selbsterlebtem ab. In seinem Solo »Orakel« ist es die Last seiner kulturellen Prägung durch das deutsche Fernsehprogramm, das dem Sohn von Schichtarbeitern in seiner Jugend viele soziale Kontakte ersetzte und mit Figuren wie Rambo oder dem Terminator sein Männlichkeitsbild verbog. Um das wieder abzuschütteln, muss Akdeniz manch schweißtreibende Runde um die Bühne drehen. Ganz wie einst Lulu Obermayer in »The Girl(s) of the Golden West« und »Manon Lescaut«. Auch sie gehört zu den jüngeren Kantig-Originellen der Münchner freien Szene, die in »Death Valley Junction« einer älteren Kantigen gedenkt. Nämlich der Choreografin und Malerin Marta Becket, die 1967 in der kalifornischen Wüste ein Opernhaus eröffnete. Fast ein halbes Jahrhundert, bevor Christoph Schlingensief den Grundstein für sein Operndorf in Burkina Faso legte.

Ungewöhnliches versucht auch das O-Team mit seinem »Nachtstück N°5«. Das einzige Gastspiel des Festivals dauert elf Stunden. Los geht es abends um 22 Uhr in der Mucca-Halle, in der jeder Gast sein eigenes Bett bezieht. Am Morgen danach gibt es ein gemeinsames Frühstück. Und dazwischen ist allerlei geboten, was die Truppe aus Stuttgart auszeichnet: wenig Sprache, dafür Objekttheater und viel Musik in einem installativen Setting. Und am Ende weiß man möglicherweise nicht mehr, ob man das Ganze nur geträumt hat. Service not Included heißt dagegen die Gruppe, die in »Blackouts« das Publikum weitgehend selbst ackern lässt. Fünf Stunden lang, erzählt Marie Jaksch, erprobt der Abend eine neue Idee vom Kollektiv: Es wird mit vereinten Kräften Strom erzeugt und ein Schrittzähler kann individuelle Belohnungen freischalten. Das urkapitalistische Leistungsdenken bleibt also intakt, wenn es der Klimakrise spielerisch an den Kragen geht. Dagegen kann in »Bo Burnham vs. Jeff Bezos« das Publikum auf der Bühne machen, was es will. Es gibt keine Performer in dem »theatralen Screening« des Videoessays gleichen Namens, das Thalia Schöller und Melina Dressler als »Selbsterfahrungstrip für die Gen Z.« eingerichtet haben. Das ebenfalls rund fünfstündige Stück ist im Schwere Reiter Studio zu sehen, einem von zehn Festivalorten, die ganz bewusst die Dezentralität der Münchner freien Szene unterstreichen. ||

RODEO 2024
Verschiedene Orte | 9.–15. Okt. | Programm | Tickets

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