In »Memory« spielen Jessica Chastain und Peter Sarsgaard auf eindrückliche Weise zwei Menschen, die mit fehlenden und verschwiegenen Erinnerungen zu kämpfen haben.

Memory

Vom Paranoia-Thriller zum Melodrama

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Entwickeln schon bald Zuneigung zueinander: Sylvia (Jessica Chastain) und Saul (Peter Sarsgaard) | © Teorema 2023

Der Kühlschrank ist kaputt, aber Sylvia zögert den Handwerker in die Wohnung zu lassen. Eigentlich hat sie eine Handwerkerin gerufen. Nach einem kurzen Moment öffnet Sylvia dem Mann trotzdem die Tür. Er geht rein und repariert den Kühlschrank.

Der unspektakuläre Augenblick des Zögerns fällt sofort auf in Sylvias routiniertem Alltag. Morgens bringt sie ihre Teenagertochter Anna zur Schule, tagsüber arbeitet sie in einem Sozialwohnheim und abends besucht sie eine Gruppensitzung für anonyme Alkoholiker. Die alleinerziehende Mutter wirkt organisiert, aber auch abweisend. Nicht nur gegenüber dem fremden Handwerker.

Auch auf einem Klassentreffen redet sie kaum mit jemanden. Als ein Mann sich zu Sylvia setzt, eilt sie davon, er hinterher. Zuhause angekommen verschließt sie ihre Wohnung mit zwei Schlössern und hält ihre Tochter vom Fenster fern. Am nächsten Morgen liegt der Mann durchgefroren vor dem Wohnblock.

Das Unbehagen der Frau hat nachvollziehbare Gründe: In der High School haben ältere Mitschüler sie vergewaltigt und nun meint sie in dem Verfolger einen der Täter wiederzuerkennen. Das Problem ist: Saul leidet an Demenz und wird mittlerweile von seinem Bruder und seiner Nichte gepflegt. Sylvia konfrontiert Saul mit der schmerzhaften Vergangenheit: »Erinnerst du dich nur, wenn es dir passt?«

Solche messerscharfen Sätze aus dem Drehbuch von Michel Franco reißen die nicht geheilten Wunden wieder auf. Doch später kommt heraus, dass Sylvia sich in Saul getäuscht hat. Er war zu dem Zeitpunkt des Missbrauchs noch nicht an ihrer Schule. Der Film »Memory« umkreist damit vorsichtig die Frage, inwieweit ein Trauma die Erinnerungen prägen, aber auch verzerren kann. Besonders interessiert sich der Regisseur Franco für die Spuren, die so ein Ereignis in der Psyche und im familiären Umkreis hinterlässt.

Sylvias Familie ist in mehrfacher Hinsicht zerrissen: Sie verbietet der Tochter auszugehen und Kontakt zur Großmutter zu haben. Außerdem hält Sylvia Abstand zu ihrer Schwester, wofür sie ebenfalls gute Gründe hat. Dysfunktionale Familiengeflechte hat Franco bereits in seinen früheren Filmen wie »April’s Daughter« oder »Sundown – Geheimnisse in Acapulco« seziert. Seinen distanzierten Stil aus statischen Einstellungen und fehlender Musikuntermalung hat der mexikanische Filmemacher im grauen New York beibehalten. Auch inhaltlich arbeitet sich Franco weiter an dem Verschweigen von Konflikten und Traumata ab, was zu Lasten der ganzen Familie geht.

Doch Michel Franco führt mit dem dementen Saul eine Figur ein, die zur Entspannung der Situation beiträgt. Denn nachdem sich Sylvias Verwechslung aufgeklärt hat, kümmert sie sich um Saul und die beiden entwickeln Zuneigung füreinander. Vom Paranoia-Thriller zum Melodrama: Was dramaturgisch arg konstruiert klingt, überzeugt vor allem wegen der Hauptdarsteller Jessica Chastain und Peter Sarsgaard, die trotz der schweren Themen so natürlich und unaufgeregt spielen.

Einmal schauen Sylvia und Saul zusammen abends auf dem Sofa einen Film. Sie weint und er auch, obwohl er als dementer Mann der Geschichte nicht mehr folgen kann. Genauso fühlt man sich nach dem Film »Memory«. Narrativ ist die Handlung mit allerlei Themen überlastet, doch emotional nehmen einen die Figuren mit ihren fehlenden und verschwiegenen Erinnerungen noch lange mit. ||

MEMORY
USA 2024 | Buch & Regie: Michel Franco | Mit: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Brooke Timber | 103 Minuten | Kinostart: 3. Oktober | Website

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