Der Animationsfilm »Schirkoa – In Lies We Trust« fragt in einem psychedelischen Bilderrausch nach der Trennlinie zwischen Dystopie und Utopie.
Schirkoa – In Lies We Trust
Individualität verboten
Freiheit ist ein zweischneidiges Schwert in der dystopischen Welt, die der indische Filmemacher Ishan Shukla in seinem Animationsfilm »Schirkoa – In Lies We Trust« entwirft. Damit alle Bewohnerinnen und Bewohner der titelgebenden Großstadt gleich sind, hat die intellektuelle Elite eine universelle Anonymität zum Gesetz erhoben: Die gesamte Bevölkerung muss zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Papiertüte über dem Kopf tragen und Nummern statt Namen. Shuklas Protagonist heißt 197A und trägt einen Anzug.
»Schirkoa« ist als klassische Dystopie angelegt, irgendwo zwischen der verqueren Logik des Überwachungsstaats in George Orwells prototypischem Roman »1984«, der technokratischen Noir-Tristesse in Ridley Scotts »Blade Runner« (1982) und der grotesken Komödie in Terry Gilliams »Brazil« (1985). Sie könne sich nicht einfach in der Öffentlichkeit umbringen, ganz ohne Tüte über dem Kopf, erklärt 197A einer jungen Frau mit rosafarbenen Haaren entsetzt, als er sie auf dem Dach eines Hochhauses entdeckt. Ideologie geht vor Leibeswohl und deshalb muss die universelle Anonymität bis in den Tod gelten.
Die ultimative Freiheit von Diskriminierung und Ungerechtigkeit herrscht in Schirkoa natürlich nur auf dem Papier. Der aufoktroyierte Konformismus hält die Bevölkerung klein. Freiheit von und Freiheit zu – zwei grundverschiedene Konstrukte, die sich nach Belieben gegeneinander ausspielen lassen.
Dass in Schirkoa das Informationsmanagement systemrelevant ist, scheint im Hier und Jetzt kaum noch dystopisch. Shukla findet hierfür eine augenzwinkernde Metapher: Während die Realität in dieser Welt durchgängig in 3-D animiert ist, laufen die vom Regime ausgestrahlten Propagandasendungen in klassischem 2-D auf den Bildschirmen und Leinwänden der Stadt. Alternative Informationsquellen: Fehlanzeige. Ohne Pressefreiheit muss die Bevölkerung dann notgedrungen glauben, dass Schirkoa von einer feindlichen Kolonie bedroht wird: Konthaqa, deren Slogan das uramerikanische Motto »In God We Trust« zu »In Lies We Trust« verzerrt. Nur eine rebellische Guerillatruppe von Individualisten hält Konthaqua für eine paradiesische Utopie.
Und der regimetreue 197A? Der wird nach den Gesetzen der bitterbösen Groteske aus Versehen zum Überläufer und muss in Konthaqua feststellen, dass Utopie und Dystopie die Kehrseiten ein und derselben Medaille sind: Wenn Individualismus Gesetz ist, muss die Anführerin dieser Künstlerenklave natürlich »Lies« heißen und deutet das Motto ihrer Untertanen damit zum ambivalenten Statement um. Wirkten die von Ishan Shukla entworfenen Slogans erst noch wie ironische Wortspielereien, legen sie spätestens jetzt die Logik von Ideologie frei. »Widerstand ist der Treibstoff für unsere Kunst! Der Tag, an dem wir gewinnen, ist der Tag, an dem wir sterben!«, ruft die kettenrauchende Meerjungfrau Lies der jubelnden Masse zu. Wie ein Echo aus Orwells Ministerium für Wahrheit klingt das – »Krieg ist Frieden!« hieß es da. ||
SCHIRKOA – IN LIES WE TRUST
Deutschland, Frankreich, Indien 2024 | Buch & Regie: Ishan Shukla | Mit: Golshifteh Farahani, Asia Argento, SoKo, King Khan, Denzil Smith | 103 Minuten | Kinostart: 29. August | Website
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