Die diesjährige Tanzwerkstatt Europa präsentiert zahlreiche bemerkenswerte Solo-Performances.
Tanzwerkstatt Europa
Eins-zu-eins-Begegnungen zwischen Trauma und Kontemplation
Eine Tänzerin in einem Kreis, kaum unterscheidbar von uns anderen, die da ebenfalls sitzen. Dann stülpt sich sehr langsam die erste Bewegung aus ihr heraus und sie wird zur Einzigen unter vielen. Jovana Zelenovic ist diese Tänzerin in Ceren Orans »Shard«. Das heißt Scherbe und nimmt Bezug auf die Partikel, in die die Welt nach traumatischen Erfahrungen zerfällt. Eben war noch alles im Lot, vielleicht sogar hochfliegend wunderbar, da macht eine Gewalterfahrung, der Tod eines geliebten Menschen oder eine unvorhergesehene Diagnose alles zunichte. Nichts ist mehr wie zuvor, man ist markiert, fühlt sich unrettbar einsam und alleine. Darum geht es in dem neuen Stück der Münchner Choreografin, das im Rahmen der diesjährigen Tanzwerkstatt Europa seine Premiere feiert. Es ist sehr folgerichtig ein Solo, dunkel und intensiv, aber auch, wie Probenvideos zeigen, Hochspannungstanz auf mehrerlei Ebenen.
Oran, deren Arbeiten sonst oft soziopolitische Felder beackern, hatte einen persönlichen Anlass, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Niemand ist vor existenziellen Erschütterungen gefeit. Und Jovana Zelenovic war ihre Wunschkandidatin für den anspruchsvollen Weg in die seelische und mentale Zerrüttung hinein und ein Stück weit auch wieder heraus. Sie war an zwei von Orans Kinderstücken beteiligt, darunter »Schön anders«, in dem die Choreografin auch selbst tanzt. »Da hat sie mich einmal sogar auf der Bühne zum Weinen gebracht«, sagt Oran, »Jovana berührt mein Herz, vor allem in Kombination mit der Musik von Benny Omerzell.« Ohne zu spoilern: Die ist bei »Shard« ganz nah dran an dem, was man sich als akustisches Äquivalent zerrütteter oder sogar reißender Nerven vorstellt.
»Shard« ist aber nicht das einzige Solo bei der diesjährigen Tanzwerkstatt, die das kleine Format ohnehin favorisiert. Bei einer Veranstaltung, bei der das Selbermachen, die Begegnung und der Austausch im Zentrum stehen, hat das nicht nur ökonomische Gründe. Theatererfahrungen sind zwar immer individuell, ein Soloabend aber ist eine Eins-zu-eins-Begegnung und neuronale Direktschaltung zwischen jeder Person im Publikum und der oder dem Tanzenden. Besonders dann, wenn man diese*n bereits von einem der bei der Tanzwerkstatt zahlreich angebotenen Workshops kennt. Bassam Abou Diab lehrt in diesem Jahr »Dabke Fusion«, eine Melange aus zeitgenössischem Tanz und dem aus der Levante stammenden Volkstanz Dabke. Daneben zeigt der libanesische Künstler in seinem Solo »Under the flesh« die innere Haltung und die Bewegungen, mit deren Hilfe sein Körper vier Kriege überstanden hat. Schon 2019 gab Diab zu Protokoll: »Im Kontext der sich gegenwärtig ereignenden Kriege und der politischen Migrationen in Europa ist es meiner Meinung nach wichtig, über die menschlichen Aspekte und die eigene körperliche Erfahrung zu sprechen, wenn das Leben bedroht wird. Ich möchte diesen Aspekt, über den in den Medien nicht berichtet wird, mit dem europäischen Publikum teilen: die Geschichte einer wahren und schmerzvollen Erfahrung von Kriegssituationen jenseits der dahinterliegenden Politik.« Wann war das je nötiger als heute?
Und was wäre für diesen Erfahrungstransfer geeigneter als eine Solo-Performance, in der (fast) nichts die Konzentration auf den Performenden stört? Besonders wenig »entwischt« der Wahrnehmung, wenn man als Zuschauer*innen direkt adressiert wird. Was das angeht, kann auch das Gruppenstück, das die Tanzwerkstatt zur Eröffnung zeigt, als eine Summe von Soli begriffen werden. Die Ankündigung von Felix Ruckerts »Ring« als »getanzte Reflexion über Kontakt und Nähe« klingt ganz nach einem Post-Corona-Werk. Dabei war seine Uraufführung bereits 1999, lange bevor das »immersive« Theater ein Begriff oder gar Trend wurde. Wer heute ein Stück von Ruckert besucht, weiß, dass Interaktionen und Berührungen anstehen, visuelle, emotionale, aber auch körperliche, gelegentlich erotische. Auch in »Ring« geht es um intime Begegnungen zwischen den 21 Tänzer*innen und ebenso vielen Zuschauern, die selbst den Startschuss dafür geben, indem sie sich auf die inneren 21 der ringförmig angeordneten Stühle setzen. Von »Verschmelzung« ist die Rede, zunächst zwischen jeweils zwei Menschen, dann von allen zu einem »Organismus«. Den Ausknopf drückt ebenfalls der Gast. Er bestimmt, wann seine Grenzen erreicht sind.
Die Gemeinschaft, die den Einzelnen auffängt oder ihm zumindest die Hand reicht, spielt auch in Ceren Orans »Shard« eine Rolle. Welche genau, ist zum Zeitpunkt unseres Gespräches noch nicht ganz klar. Bei der Erarbeitung des Stückes hat sich das Team jedenfalls intensiv mit Peter A. Levines Buch »Waking the Tiger« befasst, das den Ursprung wie den Heilungsprozess von Traumata weniger individuell als kollektiv begreift. Und körperlich. Um nicht zu viel zu verraten: Mit Berührungen und physischem Kontakt wird gespielt, dabei haben die Besucher eine Art Zeugenschaft inne, die der der Angehörigen von Traumatisierten entspricht. Ursprünglich war »Shard« für einen größeren Raum gedacht, in dem sich alle frei bewegen können. Doch der intime Sitzkreis ist nicht umsonst die erste Wahl für therapeutische wie künstlerische Begegnungen. Hier sind alle gleich weit voneinander entfernt, können Irritationen mit Blicken teilen, einander spiegeln, so die gemeinsame Zeugenschaft erfahren.
In Raquel Gualteros »Panorama« steckt die Kreisform – als Rundumblick – schon im Titel. Ihr Solo verspricht zudem Bewegungsloops und lädt zur gemeinsamen Kontemplation ein. Dazu passen auch die psychedelischen Farben und Muster des Trikots der katalanischen Tänzerin und Choreografin. Nach Kontemplation klingt auch das, was Alma Söderberg in »New Old« macht. Auf einem Stuhl sitzend hört sie Klängen zu und denkt über den alternden Frauen- und Mutterkörper nach. Auf ihrer Website erläutert sie, wie dieses Denken Rhythmus, Stimme und Bewegung wird und dass »New Old« viel persönlicher ist als ihre vorangegangenen formaleren Performances. Bei der Tanzwerkstatt gibt Söderberg einen gemeinsamen Workshop mit Meg Stuart, der bereits ausgebucht ist. Stuarts eigener Auftritt vermutlich bald auch. In »All the way around« ist die 1965 geborene, als scheu geltende Schöpferin ikonischer Werke wie »Disfigure Study« und »Blessed« als Tänzerin zu sehen, die, begleitet von dem Jazzbassisten Doug Weiss und der Pianistin Mariana Carvalho, ihre Körpererinnerungen anzapft. »Eine Meg-Stuart-Essenz« sah der Deutschlandfunk bei der Premiere des Stücks im Berliner HAU, in der das oftmals Verstörende, die Dekonstruktion und die fragmentierten Bewegungen, die Stuarts Œuvre kennzeichnen, eher leise und forschend angespielt und zu ihrem Ursprung zurückverfolgt werden. Immer im engen Zusammenspiel mit der Musik. ||
TANZWERKSTATT EUROPA
Verschiedene Orte | 30. Juli bis 9. August | Informationen zum Programm | Tickets seit 1. Juli über Münchenticket und an allen bekannten VVK-Stellen.
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