In der eindrucksvollen Ausstellung »Close Enough« im Kunstfoyer eröffnen Magnum-Fotografinnen Perspektiven auf Körper, Gefühle und Gesellschaften.

Close Enough

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Magnum-Fotografin Sabiha Çimen besuchte ihre alte Koranschule und dokumentierte den Alltag der heutigen Schülerinnen – die am Wochenende Achterbahn fahren, Istanbul, 29. August 2018 © Sabiha Çimen/Magnum Photos

Natürlich hat die 13 hat nichts mit der bösen Fee aus dem »Dornröschen«-Märchen zu tun. Die 13 entspricht exakt der Zahl weiblicher Mitglieder der Fotoagentur Magnum, deren Nimbus noch immer von den Über- und Gründungsvätern geprägt ist, Henri Cartier-Bresson und Robert Capa. Der Titel der Ausstellung, »Close Enough«, ist Capas Mantra entliehen: »Wenn Deine Bilder nicht gut genug sind, bist Du nicht nah genug dran.« Die derzeitige Präsidentin von Magnum, Cristina de Middel, fordert kleine Korrekturen am Mythos und löst das selbst ein: Sie hat Freier fotografiert und auf Karteikarten notiert, warum und wie oft diese zu Prostituierten gehen. Eine ironische Verkehrung eines kunsthistorischen Topos: Nicht mehr die begehrenswerte Frau liegt da hingestreckt auf dem Bett, sondern der Mann – eine Studie der Einsamkeit von Rio über Havanna, Paris und Lagos bis Mumbai.

Nah dran sein kann heißen: nur fragmentarische Teile zusammenzufügen. Wie bei Myriam Boulos, deren Fotografien wie Poster direkt auf die Wand geklebt sind, zum Teil übereinander, als ob sie beweglich bleiben wollten, wie die 32-jährige Fotografin, die in ihrer Heimatstadt Beirut fotografiert, oft nachts auf den Straßen, bei den Protesten, nach der Explosion im Hafen. Beirut blutet, aus dem Oberkörper des Mannes, aus dem zornigen Blick einer Demonstrantin, aus dem roten Samtgestühl eines zerstörten Theaters, in dessen Staub Herzen gemalt sind und arabische Worte: »Ich liebe dich bis auf den Tod.« Auch in Boulos’ Bildern begegnen sich Gewalt und Poesie. Die Zärtlichkeit einer Umarmung oder eines Schmetterlings als kollektiver Widerstand in einer Gesellschaft, die kein Morgen kennt.

Der eigene Schwangerschaftsbauch. Eine nachwachsende Zahnreihe im aufgerissenen Mund der Tochter. Je länger man diese sogartig komponierte Strecke aus Schwarzweiß-Formaten entlanggeht, desto stärker rückt die britische Fotografin Olivia Arthur versehrte Körper in den Vordergrund, Menschen mit Prothesen an der Schulter, im Gesicht, aber da hört die Erforschung nicht auf. Das Baby mit dem eindringlichen Blick – ist ein Roboter. Wie stark können Gefühle sein, die wir künstlichen Menschen entgegenbringen? Wo verschwimmen die Grenzen? Und wie fühlen wir uns in unseren eigenen Körpern? Die Kamera, die immer nur von außen schauen kann, beginnt Fragen zu stellen, wie es uns im Inneren ergeht.

In diesen vielschichtigen Langzeitserien wird nicht die Jagd nach ikonischen Fotos sichtbar. Eher ein tastendes Gefühl für das Gegenüber. Wenn die niederländische Fotografin Bieke Depoorter 2011, im Jahr des Arabischen Frühlings, in den beengten Wohnungen ägyptischer Familien übernachtet und ihre Bewohner dort beiläufig fotografiert, dann ist das kein kolonialer ausbeuterischer Blick, sondern das Gegenteil: Er zeugt vom Wunsch einer fremden Lebenswirklichkeit nahezukommen. Aber funktioniert es? Die Fotografin bat Betrachter inÄgypten um Kommentare direkt auf die Fotoabzüge. Die arabische Schrift liegt wie eine Kalligrafie auf den Bildern. Eine berückende Ästhetik, aber die Übersetzung zeigt, wie viel Unverständnis es gibt gegenüber der Offenheit der Landsleute.

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Nanna Heitmann fotografierte die kleine Fähre – die einzige Verbindung zum Dorf der Altgläubigen. Diese Altorthodoxen wurden als Verweigerer der russischen Kirchenreformen seit 1667 verfolgt und flüchteten sich in ferne und unzugängliche Regionen © Nanna Heitmann/Magnum Photos

Keine der 13 Magnum-Fotografinnen würde je einen Satz sagen, dessen Echo man für immer höre, schreibt die Präsidentin Cristina de Middel süffisant im Vorwort. Die Arbeiten sprechen dafür eine eindringliche Sprache. Wie sieht die Gemeinschaft einer türkischen Mädchenkoranschule aus? Wie lässt sich die erstickende iranische Gesellschaft in einem Film zeigen? Oder auch: können Bilder aus Russland etwas über den Krieg erzählen jenseits nachrichtlicher Stereotype?

Nanna Heitmann ist 2018 den großen Fluss Yenisei in Sibirien entlang gereist: Eine Fähre am Fluss, ein Reiter in weiter Steppe, auf manchen Bildern scheinen die Farben entwichen, als erlösche alles. Eine Dauer wird spürbar, in der auch ein Überdauern, ein Aushalten liegt. Das schlägt die Brücke zu den Bildern auf der Rückseite dieses Leporellos: Heitmann, deren Familie zum Teil aus Russland kommt, hat an der Front in der Ostukraine fotografiert, auf Söldnerfriedhöfen und im Lazarett, aber auch bei historischen Militärparaden. Propaganda und Wirklichkeit. Groteske und Schrecken. Ihre Bilder entstehen im journalistischen Moment, aber sie haben etwas von Gemälden, und in ihrer dichten Essenz erzählen sie viel über eine Gesellschaft im kollektiven Bann.

Es ist die letzte Ausstellung im Kunstfoyer vor dem Abriss und Neubau, den die Bayerische Versicherungskammer am Ende der Maximilianstraße plant. Jahrzehntelang hat die Leiterin und Kuratorin Isabel Siben hochklassige Fotografie präsentiert, mit sicherem Gespür für publikumswirksame Ausstellungen, aber auch mit dem Wunsch, Œuvres auszuloten, von Sebastiao Salgado bis Bill Brandt, Ragnar Axelsson bis Eve Arnold und Inge Morath, beide übrigens Magnum-Fotografinnen. In Zukunft wird sie das auf kleinerem Raum tun müssen: Anstatt der 1000 Quadratmeter Fläche und 200 Laufmeter Wände werden gerade zwei Räume eines ehemaligen Restaurants museumstauglich umgebaut. Die neue Adresse: am Thierschplatz. Man bleibt im Herzen des Lehel. ||

CLOSE ENOUGH – NEW PERSPECTIVES FROM 13 WOMEN PHOTOGRAPHERS OF MAGNUM
Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung | Maximilianstraße 53 | bis 21. Juli | täglich 9.30–18.45 Uhr | Die englischsprachige Begleitpublikation (Kehrer, 192 S., 175 Abb.) kostet 50 Euro | Eintritt frei

Weitere Besprechungen aktueller Ausstellungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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