Das Festival Think Big! feiert seine zehnte Ausgabe und ist dank seiner bedeutenden Verdienste um das junge Publikum längst etwas für alle.
Think Big! 2024
Ausweitung der Kampfzone

Ein magisches Körper-Kaleidoskop: »Mirkids« von Jasmine Morand | © Céline Michel
Aus Körpern bestehende bunte Fraktale, bildtechnisch vertrackte Versionen eines Hauses, in dem ein Hip-Hop-Tänzer seiner Kindheit nachspürt – oder Reenactments von Fotos: Das Programm von Think Big! ist in der zehnten Ausgabe des internationalen Tanz-, Musiktheater- und Performance-Festivals für junges Publikum vielseitiger denn je. Der Titel, den seine Erfinderinnen Simone Schulte-Aladağ und Bettina Wagner-Bergelt 2011 gewählt haben, um ihr Zielpublikum zu großen Gesten und Taten anzuspornen, hat auch nach innen Wirkung gezeigt. Elf Produktionen aus Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz werden zwischen dem 5. und 13. Juli in München gezeigt. Dabei setzen Schulte-Aladağ vom Verein Fokus Tanz und Andrea Gronemeyer von der Schauburg (sie ist seit 2018 im Leitungsteam) besonders auf Zugänglichkeit für ein möglichst breites Publikum und auf unmittelbare Begegnungen. Deshalb gibt es wieder Vorstellungen im öffentlichen Raum – darunter Paula Rosolens »Beat by Bits« mitten auf dem Marienplatz. Und bei »Mirkids«, der jugendfreien Variante von Jasmine Morands »Mire«, können die Besucher die Perspektive selbst wählen, aus der sie wie durch ein Kaleidoskop auf Körper blicken, die in einem an der Decke hängenden Spiegel geometrische Formen bilden. Wie eine Abfolge sich permanent neu justierender und wieder auflösender Mandalas oder Kronleuchter sieht das im Teaser aus. Opulent, verblüffend und komisch. Und da man beim Anschauen dieses Zwitters aus Tanz, Film und Visual Arts bequem auf dem Boden liegen kann, ist die Vorstellung auch für ältere Menschen geeignet und geht als »relaxed performance« durch.
Kinder unter sechs Jahren können mit der Kita, ihren Eltern und sogar Baby-Geschwistern den »Club Origami« besuchen und sich im Foyer des HochX vom japanischen Tanzkünstler Takeshi Matsumoto in die Kunst des Papierfaltens einweihen lassen. Anschließend werden die fragilen Geschöpfe für eine täglich neue Geschichte belebt. Wer es bislang noch nicht gesehen hat oder nicht genug davon bekommt, sollte unbedingt Ceren Orans ausgelassenes »Spiel im Spiel« für Kinder ab drei Jahren erleben, das Münchner Goodie in der diesjährigen Auswahl, die auch vier Stücke beinhaltet, die nicht explizit für junges Publikum konzipiert wurden. »Hush«, ein »Tanzkonzert«, von De Dansers aus Utrecht und Ugo Dehaes’»Limp« gehören dazu, das dem belgischen Balletttänzer David Framba einen Roboter zur Seite stellt, der das Fehlen von Frambas Unterschenkel kompensieren könnte, wenn …, ja wenn er nicht insgeheim eine andere Agenda hätte.

Für den unterschenkelamputierten Tänzer David Framba choreografierte Ugo Dehaes »Limp« mithilfe eines Roboters | © Ugo Dehaes
Auch Reut Shemesh hat ein generationen-übergreifendes Stück entwickelt, das untersucht, was Uniformen für das Individuum und seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Klasse bedeuten, seien es die Funkenmariechen im Karneval, Pfadfinder, religiöse oder Schul-Uniformen. Die Choreografin, die in Köln lebt, ist in Israel beim Militär und als Mädchen Turnerin gewesen. Vor der Premiere von »Esther« in Potsdam hat sie dem Berliner Tagesspiegel verraten, dass ihr der Polyester-Geruch ihrer Militär-Uniform noch immer in der Nase hängt und ihr erst spät aufging, wie junge Turnerinnen durch enge Kleidung sexualisiert werden: »Ich habe es gehasst. Dass ich nicht entscheiden konnte, was ich tragen möchte.« Deshalb beschäftigt sie dieses Thema schon länger. Für ihr brandneues Stück lässt sie fünf Performer*innen Fotos nachstellen, die sie selbst aufgenommen oder via Open Call gesammelt hat. Einige stammen auch aus dem Privatbesitz der Performer*innen.

Reut Shemeshs »Esther« ist ein »Tanzstück über Jugend und Uniform« | © Reut Shemesh
Auch »Unsolved« von Polymer DMT um die taiwanesische Choreografin und Regisseurin Fang Yun Lo, die bereits beim Münchner Spielart-Festival mit ihrer Installation »Home Away From Home« gastierte, ist im Programm mit dem Hinweis +14 versehen. Braucht es da das Festival-Label »für junges Publikum« eigentlich noch? »Momentan ja«, sagt Schulte-Aladağ, »um gezielt Eltern und Lehrerkräfte ansprechen zu können.« In derartige Fragen der Tanz-Vermittlung fließen auch ihre Erfahrungen mit »explore dance« ein. Das bundesweite Netzwerk, dessen Münchner Partner Fokus Tanz ist, hat in diesem Jahr den Tanzpreis Deutschland gewonnen – eine Riesenbestätigung für die geleistete Arbeit – und zeigt viele selbst-initiierte Produktionen für Kinder in Gemeindezentren und Schulen etwa in Brandenburg oder Niederbayern, wo etliche junge Zuschauer und Zuschauerinnen zum allerersten Mal mit zeitgenössischer Darstellender Kunst in Berührung kommen. Auch bei Think Big! gehen mobile »explore dance«-Produktionen wie Rotem Weissmans »Prisma« direkt in Ramersdorfer und Neuperlacher Schulen, ganz selbstverständlich mit theaterpädagogischer Vor- und Nachbereitung oder flankierenden Workshops.

Paula Rosolens »Beat by Bits«, hier Open Air in Paris, wird den Marienplatz rocken | © Laurent Philippe
Auch was die Locations für den Tanz angeht, wird weit und groß gedacht: »In Ermangelung eines Tanzhauses in München haben wir es dieses Jahr wenigstens geschafft, auf den wichtigsten Bühnen präsent zu sein«, sagt Schulte-Aladağ. Neben Schauburg, HochX, Muffathalle und Schwere Reiter sind erstmals auch die Münchner Kammerspiele dabei. Und mit TanzStudierenden, Kuratoren- und KünstlerKolleg*innen aus Frankfurt am Main, Istanbul, Edinburgh, London, Hamburg und Berlin werden auch viele (potentielle) Multiplikatoren in München sein. Neu in diesem Jahr: Ein Festivalzentrum auf dem Elisabethmarkt mit Jugendbands, Upcycling-Station und Gastro: »Wir freuen uns, dass sich Publikum und Kunstschaffende hier in lockerer Atmosphäre begegnen können«, so Schulte-Aladağ. ||
THINK BIG!
Verschiedene Spielorte | 5. bis 13. Juli | Website
Weitere Artikel zum Tanzgeschehen in München finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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