Das Lenbachhaus feiert in einer fulminanten Schau den englischen Künstler William Turner.
William Turner
Der Maler des Lichts
Genau genommen gibt es kein Licht in der Malerei. Licht in Gemälden ist immer nur mit Farbe erzeugte Illusion. Jahrhundertelang arbeiteten sich die Maler an der Darstellung des Lichtes ab, um Räume, Gegenstände und Landschaften zu illuminieren – je nach Epoche mit unterschiedlichen Methoden und Intentionen, und mit immer faszinierenderen Ergebnissen. Diese Geschichte des Lichts kulminiert in William Turner. Erst mit dem englischen Maler wird das Licht selbst zum Bildgegenstand. Formen werden entmaterialisiert und es bleiben nur die Effekte der zu Licht gewordenen Farben: Farbmagma, das Figürliches nur erahnen lässt.
Während wir heute fasziniert vor den eindrucksvollen Stimmungslandschaften stehen, ereiferten sich viele Zeitgenossen über das vermeintliche Unvermögen des Künstlers, galt es doch eigentlich, einer Bildidee über die Komposition, die Form und schließlich die Farben Ausdruck zu verleihen, und nicht – umgekehrt – aus der Anordnung und Vermischung der Farben die Form zu entwickeln. Viele Künstler und Kritiker konnten damals nicht ahnen, dass Turner genau damit einen Wendepunkt in der Entwicklung markierte und die Zukunft vorbereitete – von den Impressionisten wie Claude Monet über die abstrakte Malerei eines Mark Rothko bis hin in unsere Zeit zu den Lichträumen von James Turrell.
Im Rückblick zeigt sich die Alleinstellung von Turners Werk umso mehr. Zum einen, weil es seine Zeugenschaft technischer und gesellschaftlicher Umbrüche einerseits und Naturrezeption andererseits repräsentiert. Zum anderen, weil kaum ein Künstler die permanente Rezeption ganzer Generationen von Kollegen, Kritikern und Kunsthistorikern erfuhr. William Turner in München – vor der aktuellen Erfolgsschau im Lenbachhaus war das einzig und allein der »Hafen von Ostende« (1844) in der Neuen Pinakothek, immerhin eines der großartigen Spätwerke: Eine dramatische Hafenszene bei stürmischer See mit Segelbooten, die gegen Sturm und peitschende Gischt ankämpfen, während die Hälfte des Bildes von der Dynamik der dunklen Wolken und des gleißenden Lichts am Firmament dominiert wird, gemalt in raschem Strich und mit pastos aufgetragenen Farben. Ein typischer Turner eben.
Doch Joseph Mallord William Turner, 1775 in London als Sohn eines Barbiers geboren, gestorben 1851 in Chelsea, war nicht immer der ältere Herr, als den man ihn sich hierzulande gerne vorstellt, sondern ein sehr junger erfolgreicher Maler. Bereits mit vierzehn Jahren studierte er an der Royal Academy in London und stellte erste Aquarelle aus; 1796, im Alter von neunzehn zeigte er sein erstes Ölbild und war fortan fast jedes Jahr bei den Ausstellungen vertreten. Seit 1802 war er Mitglied der Royal Academy und von 1807 an Professor für Perspektive.
Eine Erfolgskarriere, die er zunächst seinen zu der Zeit noch sehr traditionell ausgerichteten Sujets in konventioneller Malweise verdankte: akademischen Historienbildern und mythologischen Szenerien. Doch diese rückte Turner immer mehr hinter Dunst, Wolken und Abendsonne in den Hintergrund, um seinem eigentlichen Interesse – der atmosphärischen Landschaftsmalerei und den Phänomenen der Natur – Raum zu geben und sich allmählich aus dem engen Korsett der Zeit zu befreien.
Ehrgeizig sicherte er sich schon früh seinen Nachruhm, indem er der Tate Gallery zunächst 100, später insgesamt 1000 Werke übereignete. Mit dem Nachlass, der nach seinem Tod dazukam, verfügt das Museum über 30 000 Werke – Skizzenbücher, Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde. Eine Fundgrube, aus der das Münchner Kuratorenteam Karin Althaus und Nicholas Maniu nun schöpfen durfte, da – im Gegenzug – die Tate Modern 2024 eine umfassende Ausstellung zur Kunst des Blauen Reiter aus dem nicht minder umfassenden Bestand des Lenbachhauses zeigen wird.
Nun ist der Kunstbau nicht unbedingt der geeignetste Raum für Malereiausstellungen, das Abschreiten der langen Wände lässt den Besucher schnell ermüden. Doch die Kurator:innen haben ihr Konzept entsprechend angepasst und die »offiziellen« Werke Turners, also die, die zu seinen Lebzeiten in Ausstellungen gezeigt wurden, auf der linken Seite den »inoffiziellen« Atelierarbeiten auf der rechten Wand gegen überstellt. Das ergibt durchaus Sinn, wird doch beim Hin und Herspringen zwischen beiden Seiten die chronologische Entwicklung des öffentlichen und des experimentellen Turners sichtbar. Der Plot der Geschichte: Beide Achsen laufen in seinem Spätwerk zusammen. An der Stirnseite der Halle zeigen der wilddynamische »Schneesturm« von 1842 und der meditative »Sonnenuntergang vom Gipfel des Rigi aus« von 1844 exemplarisch, wohin die Reise ging: Das eine Bild wieder ein furioses Seestück mit einem krängenden Schiff zwischen wirbelnden Naturgewalten. Im Auge des Zyklons vor wenig blauem Himmel der weiße Schnee, der wie ein Segel hinter dem hohen Mast aufblitzt. Im anderen Gemälde sanft und lyrisch die Gipfel und Höhenzüge der Schweizer Berge, vom Rot der Abendsonne nur angedeutet. Nahezu körperlos verschmelzen sie mit dem Dunst, dem Himmel und dem Licht.
Die Bildinhalte beider Gemälde entstehen allein aus der Farbe und erreichen eine zu der Zeit unvorstellbare Abstraktionsebene. Der harschen Kritik seiner Zeitgenossen war Turner zu der Zeit längst entwachsen. Früher hatte er darunter sehr gelitten, weshalb er lange seine kühnsten Experimente verbarg. Heute sind sie wahre Schätze. Zum Beispiel die Bildserie, die er von 1807 an vom Boot auf der Themse aus nach der Natur gemalt hat. Diese zu Studienzwecken frei hingeworfenen Ölgemälde auf Holz besitzen eine erstaunliche Unmittelbarkeit und Modernität. Die »Three Seascapes« (1827), die der Ausstellung den Namen »Drei Horizonte« gaben, malte er von zwei Seiten, so dass man das Bild auch auf den Kopf stellen kann. Mit dem Handy lässt sich die These überprüfen. Himmel, See und Land verschmelzen so im diffusen weichen Licht, dass man drei ineinandergreifende Horizonte ausmachen kann. Vorder und Hintergründe verschwimmen, die Farben fließen nach rechts und links über den Bildrand hinaus. Im Atelier war alles erlaubt. In der Mitte der streng strukturierten Ausstellung dann die nächste Überraschung: Perspektivische Konstruktionszeichnungen, die Professor Turner als Folien für seine Vorlesungen an der Royal Academy dienten und die dem Konstruktivismus der 1920 Jahre zur Ehre gereichen würden. Man muss die Regeln kennen, um sie zu brechen. Überhaupt, da kannte einer seine Materie: Auf zahlreichen Reisen fand er Motive, die er in Skizzenbüchern festhielt. Bis zu 100 Zeichnungen sollen es phasenweise pro Tag gewesen sein. Er bereiste Südengland und Schottland, er schulte sich im Louvre, er fand in Claude Lorrain ein immer wieder zitiertes, verehrtes Vorbild, er sog Tizian und die klassischen Vorbilder der europäischen Malerei nahezu auf, formte alles jedoch in der ihm eigenen Manier um. Dreimal war er in Venedig, studierte Canaletto, bis auch Venedig im Atmosphärischen des Lichts versank.
Wasser und Meer, Himmel und Licht haben William Turner zeitlebens nicht losgelassen. Umgekehrt befeuerten seine Landschaften bei den zeitgenössischen Kritikern und Kunsttheoretikern das Ringen um die Naturwahrheit in der Kunst. In der Ausstellung selbst widmet sich nur eine kleine separierte Sektion der Rezeption von Turners Werk. Die begleitende Publikation »Turner. Ein Lesebuch« mit Texten aus 200 Jahren stellt jedoch einen Fundus dar, der dem Blick auf William Turner und sein Werk nochmal eine ganz eigene Dimension hinzufügt. ||
TURNER. THREE HORIZONS
Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhaus | Zwischengeschoss U-Bahnhof Königsplatz | bis 10. März 2024 | Di–So 10–18, Do, Fr 10–20 Uhr | jeden ersten Do im Monat freier Eintritt | Es empfielt sich, Zeitfenstertickets online zu erwerben Audioguide gratis | Die Publikation (400 Seiten, 100 Abb.) kostet 22 Euro | Führungen
Weitere Besprechungen aktueller Ausstellungen in München finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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