»Das große Heft« von Ágota Kristóf ist harte Kost und starke Kunst.
Das große Heft
Wer erträgt die Wahrheit
»Ich versuche, wahre Geschichten zu schreiben, aber ab einem bestimmten Moment wird die Geschichte unerträglich, eben weil sie wahr ist, und dann muss ich sie ändern.« Sagt der Protagonist Claus. Er kehrt nach vielen Jahren im Westen zurück in ein ungarisches Dorf, um seinen Bruder Lucas zu suchen. Aufs Land wurden die neunjährigen Zwillinge im Kriegsjahr 1944 von der Mutter gebracht – zu einer harten, bösen Großmutter, die sie als billige Arbeitskräfte ausbeutete.
Die ungarische Dichterin Ágota Kristóf, Jahrgang 1935, emigrierte nach dem niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand 1956 in die Schweiz. 1986 erschien ihr Roman »Das große Heft«. In diesem Heft schreiben die Zwillinge ihre Erlebnisse auf – streng verpflichtet einer gefühlsfreien Sachlichkeit in der Beschreibung der Alltagsgrausamkeiten. Der Israeli Ran Chai Bar-zvi inszenierte erstmals am Volkstheater – ihm gelingt eine beeindruckende Aufführung. In seine Bühnenfassung hat er Texte aus Kristófs Fortsetzungsromanen »Der Beweis« und »Die dritte Lüge« aus der rückblickenden Distanz eingewebt. Vor der Rampe erklärt Jonathan Müller das Anliegen des Rückkehrers Claus – eine Beamtenstimme (mit Videotext) nimmt ihn ins Verhör. Auf der leeren schwarzen Bühne (Ansgar Prüwer) springt er zurück ins Damals und wird Teil einer fünfköpfigen Kindergang. Jeder von ihnen kann ein Zwilling sein und schlüpft in verschiedene Figuren. Die Brüder lassen Zivilisation und Moral hinter sich, passen sich der Brutalität der Großmutter und der stalinistischen Zeit an. Mit selbstquälerischen Abhärtungsritualen gewöhnen sie sich an Hunger und Prügel, töten Schmerzen und Gefühle ab.
Was vor Panzersperren im Hintergrund als Kinderkriegsspiel beginnt, wird blutiger Ernst: Ein toter Soldat liegt da. Nur ein kurzes Zögern, dann wird die Leiche geplündert. Die Kinder stehlen, lügen, töten auch, wenn nötig. Und helfen sogar aus kühlem Eigennutz. Die ständigen Rollenwechsel wirken zunächst spröde und abstrakt. Aber Jonathan Müller, Ruth Bohsung (als verrücktes Mädchen Hasenscharte), Julian Gutmann (als erpresster Pfarrer), Max Poerting (u.a. Polizist) und Nina Steils als sexgierige Magd schaffen plastische Spielszenen. Die Panzersperren nehmen bald die ganze Bühne ein, die Kindertäter liegen darauf wie kopfüber gekreuzigte Opfer. Ein starkes Bild. Nur das ewige Choralgesumme (Musik: Evelyn Saylor) bleibt gewöhnungsbedürftig.
Doch wo ist 30 Jahre später der Bruder, den Claus bei seiner Flucht zurückließ? Gab es Lucas (ein Anagramm von Claus) überhaupt? War der Zwilling eine Fiktion? Eine lebensrettende Aufspaltung des Jungen in Ich und Nicht-Ich? Wenn die Wahrheit unerträglich wird, muss man die Erzählung ändern. ||
DAS GROSSE HEFT
Volkstheater | Tumblingerstr. 29 | 19. Dez., 26., 27. Jan. | 20 Uhr
| Tickets 089 5234655
Weitere Kritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
HochX: Alles Gute zum 5. Geburtstag!
Serhij Zhadan: Der Friedenspreisträger auf dem Literaturfest
Die Zofen: Jean Genets Stück am Volkstheater
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton