Eugen Ruge schildert in seinem neuen Roman Pompeji vor dem Untergang.
Pompeji
Sehenden Auges
Über das Ende des antiken Pompeji nach dem Ausbruch des Vesuv anno 79 nach Christus wissen wir ziemlich gut Bescheid. Es gibt tolle Museen, hervorragende Bildbände und zahllose wissenschaftliche Abhandlungen, und es gibt Filme und literarische Darstellungen. Unzureichende offenbar. Denn im jüngsten Pompeji-Roman verkündet Eugen Ruge gleich in der Vorrede: »Vergiss, lieber Leser, alles, was du jemals über Pompeji gehört hast … Vergiss und lies. Dies ist der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner.«
Der Autor erfindet eine wunderbare Hauptfigur namens Josse, die aus ärmsten Verhältnissen stammt und eine skurrile Aufsteigergeschichte durchläuft. Er entfaltet ein breites Panorama der ursprünglich samnitischen, seit Langem aber römisch verwalteten Provinzstadt und ihrer Hinter- wie Abgründe. Sein Roman ist zugleich eine heitere Nachhilfestunde in antiker Geschichte und Philosophie – wer sich nur dunkel an den Kaiser Vespasian, an Epikur oder an Plinius und dessen »Naturgeschichte« erinnert, kann hier sein Halbwissen auffrischen. Gerne nimmt man einfach mal an, dass Eugen Ruge gründlich recherchiert hat – plausibel klingt seine durchgängig amüsante Geschichte allemal.
Sie beginnt damit, dass am Berg oberhalb der Stadt tote Vögel gefunden werden, und dem sich daraufhin bildenden, obskuren Vogelschutzverein wird bald klar, dass man auf einem giftige Dämpfe spuckenden Vulkan lebt – eine zunächst nur vage Erkenntnis, die den Herrschenden überhaupt nicht ins Konzept passt und deshalb politisch eingehegt werden muss. Das Stadtoberhaupt fürchtet, die Vulkangerüchte könnten seiner Stadt erheblichen Schaden zufügen, und auch Livia, die mächtigste Frau Pompejis, wird auf Josse aufmerksam. Der wiederum findet Gefallen an seinem wachsenden Einfluss und wendet sich allmählich von seinen Hippie-Kommunarden mit ihrer Vorliebe für Fliegenpilzsud und philosophisch verbrämtes Nichtstun ab. »Wie kehrt man um, ohne zu wenden«? Josse beginnt zu taktieren – ist er deshalb schon ein Verräter oder ist er nur verführbar wie fast alle Menschen? Die Anzeichen für eine bevorstehende Katastrophe verdichten sich, doch durchgreifende Maßnahmen werden erst einmal verschoben – man streitet miteinander und laviert sich durch. Kostbare Zeit vergeht. Bis es zu spät ist.
Eugen Ruge hat sich für einen allwissenden, fast alles kommentierenden Erzähler entschieden, der sich oft direkt an die Leserschaft wendet – Wendungen wie »unter uns gesagt«, »muss der Leser wissen« oder »wir wollen dem nicht widersprechen« finden sich nicht zu knapp. Stilistisch tut er das in der Sprache von heute – auch in Pompeji werden Themen »in den Fokus« genommen, Investoren »ins Boot geholt« und gestandene Einheimische sagen »Jetzt komm mal wieder runter«. Dass der 1954 im Ural geborene, in Berlin und auf Rügen lebende Schriftsteller, der für »In Zeiten des abnehmendes Lichts« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde und in den letzten Jahren weitere bemerkenswerte Romane vorgelegt hat, bildkräftig zu formulieren weiß, zeigt er auch im neuen Buch – seine sprachopulente Zeichnung eines Festessens, seine hochsensiblen Beschreibungen erotischer Begegnungen oder seine überwältigende Schilderung des Vulkanausbruchs selbst darf man als Prosa vom Feinsten bezeichnen.
Ob Eugen Ruge eine Art historische Parabel versteckt hat, bleibt offen. Wenn ein in seinen Tiefen grummelndes reformunfähiges System sehenden Auges in den Untergang schlittert, mag man vielleicht an die DDR denken. Oder an die gegenwärtige Diskussion über die Folgen des Klimawandels. Man muss aber nicht. ||
EUGEN RUGE: POMPEJI ODER DIE FÜNF REGEN DES JOWNA
dtv, 2023 | 420 Seiten | 25 Euro
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