Vom politischen Protest bis zur intimen Auslotung des eigenen Körpers präsentiert die Tanzwerkstatt Europa ein intensives Programm an Aufführungen und Workshops.

Tanzwerkstatt Europa 2023

Stehen oder nicht stehen

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»Harmonia« von Adrienn Hód hinterfragt tänzerische Konventionen und auch unsere Blicke auf den Tanz | © Jörg Landsberg

»Wie kannst Du nur behaupten, Du habest Dir mit dem Leben Mühe gegeben, wenn Du nicht einmal tanzen willst«, wirft Hermine dem Intellektuellen Harry Haller in Hermann Hesses »Steppenwolf« vor. Warum tanzt man also in der Sommerhitze bei der Tanzwerkstatt Europa? Und so einfach die Antwort nach Hesse: Um sich mit dem Leben Mühe zu geben. Um zu spüren, um diese so bestechende Vermischung von Abstraktion und absoluter physischer Präsenz, die der Tanz bietet, zu fühlen. Nirgends ist die Abstraktion so einfach zu begreifen wie über Tanz.

Die Tanzwerkstatt Europa ist da als Festival aber mit Aufführungen und Workshops sowieso immer schon ganz vorne mit dabei, seit über 30 Jahren. Laien und Profis begegnen sich im aktiven Tanz und im Sehen neuester Produktionen. Tanz ist eine der ursprünglichsten Formen von Kunst. Tanz ist aber auch eine der gerade am schnellsten auf politische und zeitgeschichtliche Veränderungen reagierenden Kunstformen.

Genau hier setzt auch das Performance-Programm der Tanzwerkstatt Europa an. Hindernisse des Lebens und deren Abbau. Etwa bei Alexander Vantournhout. Er eröffnet das Programm mit seinem Stück »Foreshadow“. Ein Stück für acht Tänzerinnen und Tänzer zu experimenteller Rockmusik, deren Bühne von einem vertikalen Hindernis versperrt ist. In dessen Überwindung schrauben sie sich als menschliche Pyramiden immer höher. Tanzen als artistische Kunstform, als abstrakte Lust an Sensation und Bewegung ist das auch. Passend dazu auch der Workshop, den Vantournhout bei der TWS 2023 anbietet: »Partnering by not standing«.

Was der eigene Körper so an Möglichkeiten und Hindernissen bereit hält, damit setzt sich die ungarische Choreografin Adrienn Hód auseinander. Denn die Bedeutung des eigenen Körpers in Tanz und Gesellschaft ist groß. Im Stück »Harmonia«, 2023 mit dem Lábán-Preis für das beste Tanzstück Ungarns ausgezeichnet, hinterfragt ein Ensemble von Tänzerinnen und Tänzern mit und ohne Behinderung die Hierarchien des klassischen Tanzes, aber auch die vermeintlich fortschrittlichen Formen der zeitgenössischen Tanzkunst.

»Dance is not for us« titelt hingegen Omar Rajeh und holt damit freilich den Tanz schon im Titel ins politische Spektrum zurück. Das Tanzen wird hier von äußeren Umständen verhindert. Es sei unter verschiedenen Blickwinkeln seltsam gewesen, dass er sich für Tanz entschiedenen hätte, in einem Land, das gerade aus einem Bürgerkrieg herauskam, das Zerstörung, Tod und Verlust erfahren habe, erklärt Rajeh: »Wie auch immer, Tanz schien zu der Zeit das Revolutionärste, das Provokativste und das Konfrontativste zu sein.« Für den libanesischen Künstler Omar Rajeh ist Tanz an sich ein ermächtigender Akt, den er in der Deutschlandpremiere seines Solos und in einem daran angeschlossenen »Choreografic Lab« auch als solchen zeigt. Politisch relevant und aktuell sind ebenfalls die Arbeiten des polnischen Choreografen Maciej Kuźmiński. Im Mai präsentierte das Festival DANCE sein gefeiertes (Anti-)Kriegs-Stück »Every Minute Motherland« mit der aus der aus der Ukraine geflüchteten Tänzerin Daria Koval im Ensemble. Die Tanzwerkstatt zeigt nun ein (von Kuźmiźski produziertes) Solo von Koval, in dem sie Gefühle über den Verlust der Heimat inTanz. übersetzt: »Рух Oпору – Resistance Movement«.

Aufs pure Tanzen wirft Jefta van Dinther seine Tänzerinnen und Tänzer in »Unearth« zurück. Introspektion auf Körper und Stimme für zehn Menschen. »Just Dance« nennt auch die Wahlmünchnerin Ceren Oran mit großer Leichtigkeit ihren Workshop bei der TWS 2023. Ihr Stück »Relationshifts«, eine berührende Durational Performance eines Tanz-Paars, zeigt sie im Schwere Reiter. Ebenfalls aus der Münchner Szene kommt Cola Ho Lok Yee. Bei Showing-Format Hier=Jetzt im Frühjahr 2023 bekam sie für ihre Arbeitsskizze »Emma’s Jaw« den Publikumspreis. Die ausgearbeitete Fassung gibt es jetzt im Hoch X, in deinem Doppelabend mit dem Solo von Daria Koval. ||

TANZWERKSTATT EUROPA
Verschiedene Spielorte | 1. bis 11. August | genaues Programm

Weitere Artikel zum Tanz in München gibt es in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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