Das ETA Hoffmann Theater in Bamberg punktet in der öffentlichen Wahrnehmung mit neuer Dramatik und zeitgenössischen Themen. Das zeigt derzeit »Who is afraid of FUCK YOU ALL«.
ETA Hoffmann Theater
Gegenwart hat Vorrang
Im Foyer gellt es laut und turbulent. Alles voll mit Schülerinnen und Schülern genau jenes Alters, in dem man für vieles Interesse hat, nur nicht für die Probleme der Eltern. Wenige Minuten später herrscht absolute Ruhe im Studio des ETA Hoffmann Theaters Bamberg. Eine Stunde lang, aber nicht aufgrund derAutorität der begleitenden Lehrer. Das Thema des Stücks »Tiefer Grund« sitzt und packt. In erster Linie geht es nicht um das Ende des Amokläufers Erik, der im Alter von 15 Jahren mehrere Mitschüler niederschießt und dann seinem Leben ein Ende macht. Sondern um die Eltern nach der Katastrophe. Es ist der vierte Bühnentext von Björn SC Deigner für das ETA Hoffmann Theater Bamberg – und damit seine vierte Uraufführung dort. Geplant eigentlich als Abendstück für älteres Publikum gibt es jetzt auch Schulvorstellungen am Vormittag. Das Anspruchsniveau ist hoch. Florian Walter als Vater und Barbara Wurster als Mutter schenken dem Publikum und sich nichts. Sie setzen Pausen und leise Gesten zu den großen Emotionen. In den Fragen der Eltern des toten Erik stecken die Verstörungen einer traumatisierenden Konstellation: Was haben wir falsch gemacht? Wie konnten wir übersehen und verdrängen, dass unser Sohn ein Anhänger der Incel-Bewegung wurde? Vielleicht wäre die Ehe der Eltern in »Tiefer Grund« auch ohne die Anstrengungen der Trauerarbeit zerbrochen. Die soziale Stigmatisierung, die die engsten Angehörigen eines minderjährigen Schwerverbrechers zwangsläufig trifft, bleibt eine Bürde.
Inszeniert hat Intendantin Sibylle Broll-Pape. Sie leitet das ETA Hoffmann Theater seit der Spielzeit 2015/16. Das Gebäudemit drei Spielstätten – Großes Haus (400 Plätze), Studio (100 Plätze), Gewölbe (60 Plätze) sowie die TreffBAR – wurde 2003 eröffnet. »Jetzt ist das ETA Hoffmann Theater neben den Bamberger Symphonikern einer der kulturellen Leuchttürme der Stadt Bamberg«, sagt sie in unserem Gespräch. »Das war nicht immer so.« Dem Theater half sie in den bisher acht Jahren ihrer Präsenz ordentlich auf die Sprünge in der öffentlichen Wahrnehmung – explizit mit neuer Dramatik und zeitgenössischen Themen, die unter ihrer Leitung eine Kontinuität bilden. »Verwundbar« lautet das Motto dieser Spielzeit. »Unser Angebot muss mit den Menschen vor Ort etwas zu tun haben«, begründet Broll-Pape. Auch die Klassiker kommen bei dem 15-köpfigen Ensemble nicht zu kurz. »Das Stück sollte immer erkennbar bleiben«, meint die Intendantin, und brach Goethes »Faust«, dessen zweiten Teil sie für einen der zukunftsweisendsten Texte überhaupt hält, auf etwa drei Stunden herunter.
Der Bamberger Gesamtspielplan wirkt neben dem Weltkulturerbe in der Stadt frisch und trotz schwerer Themengewichte immer einladend. Die Bamberger Symphoniker, die größte und personenstärkste Kultureinrichtung, setzen eher auf das romantische und frühmoderne Musikrepertoire. Touristenströme ziehen durch die Innenstadt. Das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia mit Stipendien für bildende Kunst, Literatur und Musik ist ein internationales Zentrum neuer Kunstproduktion. Und gegenüber dem Theater befindet sich das E.T.A.-Hoffmann-Museum. Als das Bamberger Theater Anfang des 19. Jahrhunderts durch Reichsgraf Julius von Soden gegründet wurde, war der »Gespenster-Hoffmann« Kapellmeister und komponierte auch. Während Broll-Pape zu Beginn der Spielzeit 22/23 mit Händels »Alessandro« in einem Projekt mit der Jungen Deutschen Philharmonie ausnahmsweise Operinszenierte, gab es nicht einmal hier zu Hoffmanns 200. Todestag eines seiner musikalischen Bühnenwerke zu sehen – weder in Bamberg noch weltweit.
Im Sprechtheater ist 2022/23 Büchners »Dantons Tod« das älteste Stück. »Zaun« von Sam Max kam als Deutsche Erstaufführung heraus. In der Uraufführung von Clemens Bechtels und Jan Boettchers »Kick & Kollaps« ging es um toxische Wirtschaftsmarodeure und ihre rosaroten Träume. Die nächste Premiere ist als Stückentwicklung auch eine Uraufführung, aber als solche in der Saisonbroschüre nicht gekennzeichnet. Bei meinem Besuch am 14. Februar beginnt das Ensemble gerade mit den ersten Schnupper- und Textproben. Bis zum 10. März wird visuell von der Künstlerin Anna McCarthy und der Regie-Kollagistin Paula Thielecke noch hart um »Who is afraid of FUCK YOU ALL« gerungen werden. Am ehesten weiß schon der Münchner Sound-Rumpler Anton Kaun, dass dieses Theaterabenteuer rau und wild und hart werden wird. Je toller, desto besser. Kauns erste Tonexperimente klingen nach Blech, Metall, Radau und kantigen Beats.
Die mit ihren Positionen ordentlich feministischen Staub aufwirbelnde Regisseurin, Performancekünstlerin und Dramatikerin Paula Thielecke macht sich an »The Story of Kathy Acker – ein körpererotisches Punk-Biopic«. Die 1997 mit nur 50 Jahren an Brustkrebs verstorbene Ikone einer sexuell fundierten Radikalemanzipation aller geschlechtlichen Zuordnungen erhält in Bamberg eine im aktuell dominierenden Kuschelgang von Empathie und performativer Achtsamkeit bemerkenswert unangepasste Hommage. Die letztes Jahr erschienene Neu-übersetzung von Kathy Ackers Roman »Bis aufs Blut« hieß in der ersten deutschen Fassung noch »Harte Mädchen weinen nicht«. Schon Acker kam mit einem Literatenkollegen wie Harold Robbins in Konflikt, weil bei ihrer furiosen Darstellung sexueller Tabubrüche und ihren knapp wie obsessiv gehaltenen Selbstsuchen Textstellen anderer Urheber in ihre Texte einflossen. Nach Burroughs und Copi verrührte Acker wie die Beatniks knallbunte, grelle Visionen und humane Anliegen.
»Das Schöne an meinem Beruf ist, dass ich jeden Tag ein bisschen klüger einschlafe, als ich morgens aufgestanden bin«, sagt die ein Uniseminar für »Dramaturgie in der Praxis« veranstaltende leitende Dramaturgin Petra Schiller auch über ihre Rundum-Auseinandersetzung mit Acker. Das wird sie weiterhin, zumal die triftigen Themen als Kern der Bamberger Theaterarbeit intensivere Recherchen erfordern als der schnelle Griff ins Klassikerfach des Bücherregals. Betreffend Lektüren bedeutet die Arbeit mit der an der Schnittstelle zwischen Szene und Text ansetzenden Paula Thielecke eine starke Herausforderung, auch weil die Lust am provokativen Tabubruch zum Zentrum von Ackers Ästhetik gehört. Dabei sind die Fantasiegeburten des Bamberger Lokalheroen E.T.A. Hoffmann nichtweniger irritierend als Kathy Ackers schreiende Sujets. Am ETA Hoffmann Theater soll es auch in Zukunft beides geben. Aberdie Gegenwart hat immer Vorrang. ||
WHO IS AFRAID OF FUCK YOU ALL
ETA Hoffmann Theater – Studio | Bamberg | 10., 11., 15., 16., 19., 25., 26., 29. März | 20 Uhr | Tickets: 0951 873030
Weiteres zum Theatergeschehen in München und Oberbayern gibt es in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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