Claudia Bossard zeigt mit »Feeling Faust«, warum man das Drama um den toxischen alten weißen Mann nicht ganz ad acta legen sollte.

Feeling Faust

Da steckt noch mehr drin

feeling faust

Alle drängeln sich im Safe Space (Ensemble) | © Gabriela Neeb

Seit dem 13. September ist es offiziell. Auch in Bayern ist Goethes »Faust« nicht länger Pflichtlektüre für das Deutsch-Abitur. Zeit also, das zerfledderte Reclamheftchen erleichtert in die Ecke zu pfeffern und den Ausbund toxischer Altherrlichkeit endgültig aus Kanon und kollektivem Gedächtnis zu streichen? Halt, nicht so schnell! Am Münchner Volkstheater hat Regisseurin Claudia Bossard mit »Feeling Faust – nach Motiven von Goethe Faust I und Faust II« gerade einen beherzten Wiederbelebungsversuch unternommen – nicht ohne Ironie, versteht sich, angereichert mit einer Eigentext-Transfusion (Mitarbeit: Barbara Juch und Steffen Link) samt der gehörigen Dosis postfeministischer Theorie und getragen vom Elan eines hochmotivierten darstellerischen Einsatzteams.

Beim Prolog im Germanistikseminar nimmt eine siebenköpfige Expert*innenrunde im gruftigen Akademikerlook (Kostüme: Andy Besuch) zunächst den Autor als »deutschen Fall« delikater Neurosen von Höhenangst bis Ejaculatio praecox psychoanalytisch und hochnotkomisch aufs Korn. Dennoch bleibt Bossard auch dem Phantombild Faust vom Denken übers Fühlen bis in den narzisstischen Entgrenzungswahn auf der Spur, zeigt, was für Sehn- und Suchtpotenzial in dem ra(s)tlos hinan stolpernden Streber zu Zeiten von FOMO (Fear Of Missing Out) und Dauerkrise des weißen Mannes steckt und bringt dazu ungefähr ab der Hälfte des Abends auch noch überraschend viele Originalverse von der Zueignung über »Habe nun ach …« bis zur Schülerszene und des Pudels Kern unter.

Elisabeth Weiß hat dazu die große Bühne leergeräumt. Vor einem Rundhorizont in eisigem Weiß krümmt sich eine einsame Palme. Wer sich in dieser Weite verloren fühlt, kann zum Seelenaufwärmen in einen rot tapezierten Safe Space im Telefonzellenformat links vorn an der Rampe einchecken. Dort kommt es neben wildem Gerangel um die besten Textstellen zu einer entzückenden Gretchenszene ohne Gretchen (das wurde zu Beginn schon ersatzlos gestrichen) zwischen Steffen Link und Jan Meeno Jürgens, die im Verlauf des Abends supersüß miteinander alle möglichen queeren Faust-Mephisto-Kombis durchprobieren. Denn schließlich geht es ja in erster Linie um »Feelings«, was Jürgens dann auch noch mal mit voller Emo-Power und dem Hit von Morris Albert bekräftigt.

Ab da fliegt das zitatgespickte Mash-up dann allerdings inhaltlich wie äußerlich mehr und mehr auseinander. Steffen Link darf in einem selbst gebastelten Was-bin-ich-nicht-toll-Monolog noch einmal hart an den Bruchkanten von Unscheinbarkeitskomplex, Überschwang und Größenwahn surfen, sich als Pippi Langstrumpf, Harry Styles und Leonardo DiCaprio in einem imaginieren, während zu Richard Wagners »Tristan«-Ouvertüre abwechselnd Cat Content, Augenpaare mit doppelten Pupillen, Kriegs- und Katastrophenbilder über eine Riesenleinwand flimmern (Video und Sound: Annalena Fröhlich). The party is over – oder fängt sie gerade erst richtig an? Zumindest erscheint anstelle der Mütter aus »Faust II« eine eindrucksvolle Phalanx knallbunter Dragqueens, die sich zum Walpurgis-Rave ihrer schrillen Outfits bald bis auf die Strumpfhosen entledigen, weil man so viel besser tanzen kann. Mit Erlösung rechnet hier ohnehin keine*r mehr. Stattdessen schlagen Steffen Link und Jan Meeno Jürgens zum Zeitvertreib mit lautem Donnerkrachen Golfbälle ins Aus. Mehr Licht bringt das zwar nicht unbedingt in die düsteren Aussichten der Gegenwart. Doch im besten Fall wird die Neugier geschürt, sich befreit vom Lesezwang noch einmal in diesen wilden Text zu stürzen, in dem auch aus heutiger Sicht viel heller Witz im Angesicht des Abgrunds steckt. ||

FEELING FAUST
Volkstheater | Tumblingerstr. 29 | 13. Juli | 19.30 Uhr | Tickets: 089 5234655

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