Frieren muss man nicht. Aber es wird aufgepasst, dass möglichst nichts verschwendet wird, damit das Tollwood Winterfestival so magisch wie möglich werden kann. Hier finden Sie den kompletten Artikel von Dirk Wagner vorarb aus der neuen Ausgabe.
Tollwood Winterfestival 2022
Denken und Feiern
Nach zwei, drei Durchgängen scheint die anfängliche Unsicherheit der Engländerin verflogen zu sein. Zielsicher schwenkt sie den Eisstock und lässt ihn unter johlendem Beifall der Mitspieler über die Bahn gleiten. Lautlos beinahe schlittert er diesmal dicht an die anvisierte Daube. Der Sieg scheint der Engländerin sicher, die Getränke für den Feierumtrunk stehen schon bereit. Ein Spiel mit viel kollektivem Spaß und gleich vier Eisbahnen ermöglichen in diesem Jahr erstmals auf dem Tollwood Winterfestival jene sportliche Freiluftbetätigung, die nicht nur Weihnachtsfeiern zu einem besonderen Erlebnis macht. Um keine Energie für die Kühlung zu verbrauchen, bestehen die Spielfelder aus einem speziellen Kunststoff, der echtem Eis überraschend ähnelt. Andernfalls hätten die Bahnen auch keinen Platz auf einem Tollwood Winterfestival, das sich heuer noch expliziter als sonst bereits üblich der Nachhaltigkeit und dem Klimaschutz widmet. Darum gibt es diesmal auch zwei Zelte weniger, denn sie müssten sonst schon der Statik wegen beheizt werden, sagt Stefanie Kneer, die Pressesprecherin des Festivals. Schließlich könnte sich ja Schnee auf nicht beheizten Dächern so lange häufen, bis diese einbrechen. Also gibt es diesmal auf der Theresienwiese eine weitere Außenbühne für Performances und einen vorgelagerten Platz für eine Feuershow. Zudem kann man vor Ort Regenschirme ausleihen.
Aber natürlich gibt es trotzdem auch geheizte Zelte, in denen man speisen, einen Bazar besuchen oder wie im Hexenkessel bei leckeren Getränken ein abwechslungsreiches Konzertprogramm bei freiem Eintritt genießen kann. Das zur besten deutschen Bluesband 2021 (German Blues Challenge 2021) gekürte Trio Muddy What? zum Beispiel belebt dort den Blues (23.12.), und zahlreiche andere Münchner Musikkoryphäen wie Claudia Cane, Dr. Will oder Ecco DiLorenzo treten auf. Vor der ebenso komischen wie spannenden Akrobatik der kanadischen Compagnie Machine du Cirque im Grand Chapiteau wiederum kann man sich vom Spitzenkoch Holger Stromberg kulinarisch verwöhnen lassen.
Der ehemalige Cuisinier der deutschen Nationalelf, der seinerzeit die Mannschaft in die Meisterschaft gekocht hatte, hat ganz im Sinne der Nachhaltigkeit ein ebenso schmackhaftes wie gesundes Biomenü kreiert, das zu 85 Prozent vegan ist. Die verbleibenden 15 Prozent beinhalten alle tierischen Produkte von Eiern über Milch bis hin zum Fleisch, das es im Hauptgang als Alternative zum vegetarischen Samen-Saaten-Medaillon gibt. Tierisches gibt es also auch und, statt wie sonst leider nur allzu üblich, werden nicht nur die Filetstücke verbraten, sondern das ganze geschlachtete Tier wird verkocht, von der Nase bis zum Schwanz, »from nose to tail«. Damit folgt auch das edle Essen dem Nachhaltigkeitsanspruch des Tollwood, das in einem weiteren Zelt die Besucher:innen dazu einlädt, sich mit dem Thema des aufmerksam guten Lebens auseinanderzusetzen. Auf einer opulent gedeckten Tafel werden die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung serviert, zu denen sich die Vereinten Nationen 2015 verpflichtet hatten. Denn über 30 Prozent der weltweit produzierten Lebensmittel werden stattdessen noch immer für die Tonne gemacht, heißt es in der künstlerischen Installation. Dabei könnte wohl schon ein Zehntel weniger Lebensmittelverschwendung den Hunger auf dieser Welt beenden. Auch auf das Privileg Bildung wird hingewiesen, die nicht allen frei zugänglich ist, und auf die noch immer aktuelle Benachteiligung von Frauen in vielen Lebensbereichen. Ein umfassendes Thema, von der Gleichberechtigung über die Verschwendung von Ressourcen bis hin zu den Chancen eines umfassend einander wertschätzenden Miteinanders.
Im weißen Zelt auf dem Tollwood-Gelände kann man sich aber auch darüber informieren, wie es um Münchens CO2- Bilanz steht, und mit welchen schon kleinen Maßnahmen man die Lebensqualität in der Stadt verbessern könnte. Und ja, liebe Freunde des Motorsports auf öffentlichen Fahrbahnen und Straßen: Auch das Tempolimit gilt im Rest der Welt als ein bewährtes Mittel. Die Magie des Tollwood Winterfestivals besteht indes darin, dass es trotz der auch mit anderen Kunstwerken präsentierten ernsten Themen ein märchenhaft schöner Weihnachtsmarkt bleibt. Dafür sorgen Glühweinstände, aber auch Verkaufsbuden, an denen es unter anderem Schmuck gibt, dem man nun wirklich nicht ansieht, dass er aus altem Besteck gefertigt wurde, denn so hübsch können recycelte Produkte sein. Und nein, das buckelnde Katzenskelett, das über einer Theke die dort sitzenden Raben anfaucht, ist nicht recycelt. Aber es passt vortrefflich zu einem Glühwein- und Punschstand, der nahe dem Zauberwald als Hexenhäuschen erscheint. Nicht zu verwechseln mit dem Hexenkessel, in welchem auch der Autor dieser Zeilen als DJ auf der Tollwood-Silvesterparty Tanzmusik auflegen darf. Ein bisschen Spaß darf schließlich sein, eigentlich ganz schön viel, wenn man das Festival als Angebot mit Ausblick, nicht als Markt der Moralitäten versteht. ||
TOLLWOOD WINTERFESTIVAL
Theresienwiese | bis 31. Dez. (Markt bis 23. Dez.)
tägl. ab 14 Uhr, Sa und So ab 11 Uhr | Tickets: 089 3838500
Weitere Artikel zum kulturellen Geschehen finden Sie ab dem 10. Dezember in unserer neuen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Karl F. Gerber: Musik für Maschinen
Zanaida: Johann Christian Bachs Oper im Prinzregententheater
Puch Open Air 2024: Programm des 35. Jubiläums
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton