Serhij Zhadan ist zur bekanntesten Stimme ukrainischer Literatur geworden. Beim Literaturfest tritt der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels auch mit seiner Band auf.
Serhij Zhadan
Der Blick in den Himmel
Der erste Eintrag trägt den Zeitstempel »24. Februar 15:05«. Es ist der Tag der russischen Invasion. Der ukrainische Autor und Musiker Serhij Zhadan postet ein Foto seiner Band »Zhadan i Sobaky« vor dem Namenszug seiner Heimatstadt Charkiw: »Alle unsere Konzerte werden wir später spielen, nach unserem Sieg, jetzt aber wünschen wir allen, dass sie bleiben, wo sie sind, und ihre Arbeit tun, die Streitkräfte der Ukraine unterstützen, unseren Mitbürgern helfen, die heute unsere Hilfe brauchen.« Und das hat Zhadan dann in den folgenden Wochen und Monaten auch getan: humanitäre Hilfe geleistet, Lebensmittel verteilt – und doch: auch Konzerte gespielt, um Mut zu machen. In den Metrostationen, die als Aushilfsbunker dienten, sogar an der Front. Denn der »Sieg« lässt noch immer auf sich warten, der Krieg dauert an.
Zeit zu schreiben blieb ihm wenig. Die sozialen Netzwerke wurden sein Sprachrohr, er postete regelmäßig aus diesem neuen Alltag im Krieg. All die Posts vom 24. Februar bis zum 24. Juni sind nun in Buchform erschienen: »Himmel über Charkiw« heißt die Sammlung. Der Blick in den Himmel, der allem mit seinem Blau und den wehenden ukrainischen Flaggen trotzte, zieht sich durch die Texte. Im Oktober wurde Serhij Zhadan mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 ausgezeichnet. Im November kommt er mit seiner Band zum Münchner Literaturfest, wird aus seinem neuen Buch lesen und ein Konzert spielen. »Die wichtigste Situation für uns Ukrainer ist der Krieg«, sagte Zhadan in einem ARD-Interview zum Friedenspreis. »Wir können momentan nicht normal über Literatur sprechen.« Und auch die Jury des Preises betonte, mit der Auszeichnung zum einen Zhadans »herausragendes künstlerisches Werk« als auch »seine humanitäre Haltung« auszuzeichnen, »mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft«.
Jeder seiner Einträge ist geprägt von der tiefen Sehnsucht nach einem normalen, friedlichen Leben. Auch wenn man den Miniaturen anmerkt, dass sie unter Zeitdruck entstanden sind, dass sie nicht geschrieben wurden, um als Sammlung in einem Buch zu landen, ergeben sie in ihrer Gesamtheit – und gerade auch in ihrer Flüchtigkeit – eineindringliches Bild eines Landes, das verzweifelt ist und doch nie die Hoffnung aufgeben will. »Die späte Sonne ist dunkelrot und verwischt, wie ein Poststempel«, heißt es im letzten Post im Buch vom 24. Juni. »Schnell rollt sie weg, verschleiert sich mit Wolken. Es wird ganz und gar abendlich. Vor uns die Nacht. Absolute Stille. Wie sehr wünscht man sich, dass es so bleibt.« Es ist nicht so geblieben. Wir wissen es. Zhadan postet weiter. ||
SERHIJ ZHADAN: HIMMEL ÜBER CHARKIW – NACHRICHTEN VOM ÜBERLEBEN IM KRIEG
Suhrkamp, 2022 | 239 Seiten | 20 Euro; Lesung
21.11.
FORUM:AUTOREN: HIMMEL ÜBER CHARKIW – LESUNG UND GESPRÄCH MIT SERHIJ ZHADAN
Moderation: Katja Gasser, Deutsche Lesung: Thomas Lettow | Muffatwerk & Ampere
19 Uhr | anschließend 21 Uhr Konzert »Zhadan i Sobaky« | 25 Euro (20 Euro) für Lesung & Konzert
Ein großes Special zum Literaturfest München finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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