Ceren Oran wurde mit dem Förderpreis Tanz 2022 ausgezeichnet – und präsentiert ein neues Stück im Einstein Kultur.
Ceren Oran
Tanz als Daseinsform
Es passiert selten, dass man die Arbeit einer noch unbekannten Künstlerin sieht und sofort spürt, dass von hier ab etwas Neues beginnt. Als Ceren Oran im Juni 2015 mit »Heimat…los!« ihr München-Debüt gab, war es kein spezielles Idiom, was mich ansprang, sondern so etwas wie ein exquisiter Geschmack, der alles durchglühte und zusammenhielt: das Thema – die Zerreißprobe Migration und »die unterschiedliche Reisedauer von Körper, Verstand, Herz und Seele« –, die Livemalerei und die orientalisch grundierte Musik respektive »Vokalimprovisation«.
Die 1984 in Istanbul geborene Tänzerin, Soundpainterin und Choreografin war in ihrer neuen Heimat angekommen mit einem Anliegen, einem Handwerk, das sie beherrschte und dem, was Simone Schulte-Aladag in ihrer Laudatio zur Verleihung des Förderpreises Tanz 2022 »Großzügigkeit« nennt. Die steckt bei Ceren Oran in allen Gesten. Ob sie ihr gesamtes Team in ihr Elternhaus in der Türkei einlädt oder mit einer unerhörten Offenheit Kritik einfordert und dabei nicht die Bohne auf narzisstische Bestätigung aus ist. Großzügigkeit ist aber auch die Basis ihres nicht-elitären Verständnisses von Tanz, den sie als anthropologische Notwendigkeit, ja als Daseinsform betrachtet und wie ein von Herzen kommendes Geschenk verteilt. Schon als Dreijährige, erzählt sie gerne, habe sie Fake-Eintrittskarten an Familienmitglieder und Freunde verkauft und allen, die sich nicht wehrten, etwas vorgespielt. War ihr damaliger Charme auch nur in etwa vergleichbar mit heute, muss im Hause Oran ein permanentes Fest gewesen sein.
Heute verteilt Ceren derartige Geschenke besonders gerne an Kinder – oder sie öffnet ihr tänzerisches Füllhorn im öffentlichen Raum, wo sie mit dem Tanzmarathon »Who is Frau Troffea?« offensiv auf Menschen zuging, die bislang keine Berührung mit zeitgenössischem Tanz hatten.
Ceren Oran entwickelt ihre Fragestellungen und ihre Ästhetik konsequent weiter, ohne dabei je vorhersehbar zu sein. Nach vielen konkret-erzählenden Stücken wie »Sag mal…« oder »Elefant aus dem Ei« kam 2020 mit »Schön Anders« ihr erstes abstraktes Tanzstück für Kinder heraus und war fast noch bezaubernder. Zuletzt hat sie sich mit »Geschichten in Blau« sehr lustig in die Verzwicktheiten von Paarbeziehungen hineingewühlt und ihrem immer mehr zusammenwachsenden Team einen neuen Namen gegeben: »Moving Borders«. Er subsumiert einige ihrer bevorzugten Themen, könnte aber auch für den Optimismus stehen, den Ceren auch als Person ausstrahlt. Diese neugierige »Tanzforscherin«, wie sie die Förderpreisjury treffend nennt, arbeitet mit einem »erweiterten Begriff von Choreografie« und mit »Worten, die zu tanzen beginnen oder einer Geste, die zu Musik wird«. Dieses gesamtkunstwerkhafte Ineinander aller Mittel ist typisch für sie, wesentlich aber ist, was sie auslösen. Das geht Ceren auch als Zuschauerin so: »›Violet‹‹von Meg Stuart«, verriet sie kürzlich, »ist eine meiner Lieblings-Tanzperformances, weil ich mit diesen Tänzern gemeinsam durch alle geistigen und emotionalen Abgründe gehen kann. Ein großartiger Tänzer zeichnet sich für mich nicht durch seine technischen Fähigkeiten aus, sondern weil er mir so einen Trip ermöglicht.«
Die Trips, zu denen sie selbst einlädt, fanden bislang in Turnhallen und Klassenzimmern, Stadtteilkulturzentren, auf belebten Plätzen und Parkdecks oder in der Elbphilharmonie statt, ihre Gastspielreisen führen sie mittlerweile bis nach China. Am 11. November ist ihre nächste Premiere in München. »Relationshifts« ist die »durational performance« eines einzigen Tanzpaares, das im Einstein Kultur jeden Abend vier scheinbar identische einstündige Loops zeigt. Es geht um die Modulationen einer Paarbeziehung wie in »Geschichten in Blau«, um die seismografische Wahrnehmung von Unterschieden im Immergleichen. Und in das »unendliche Recherchefeld« fließen nicht nur persönliche Erfahrungen der Beteiligten ein, sondern auch »uigurische Songs und koreanische Liebesfilme, der Leitfaden für Polyamorie … oder Gedichte von Kate Tempest«. Klingt strange? Ist nur die großzügige Einladung auf einen noch unbekannten Trip. ||
CEREN ORAN: RELATIONSHIFTS
Einstein Kultur | Einsteinstraße 42 | 11. bis 13. November
18 Uhr, 19 Uhr, 20 Uhr, 21 Uhr | Es können einzelne Loops oder mehrere hintereinander gebucht werden; am 12.11. Gratis-Eintritt, so lange Plätze frei
Weitere Artikel zum Tanz-Geschehen in München gibt es in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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