Das Internationale Figurentheaterfestival wunder. präsentiert internationale Produktionen mit Fokus auf historische Ereignisse.

wunder. Internationales Figurentheaterfestival

Geschichte wird gemacht

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»Kamp« von Hotel Modern bringt das Unvorstellbare des Vernichtungslagers Auschwitz unangenehm nahe | © Hotel Modern

Dass das Museum der Bayerischen Geschichte in Regensburg die popkulturellen Errungenschaften Bayerns einzig an der ausgestellten Bassgitarre und Jacke des Spider Murphy Gang-Sängers Günther Sigl nebst einer Hitsingle seiner Band festmachen will sowie – und hier glaubten die Kuratoren wohl ernsthaft, dass die Herzen aller Pophistoriker Bayerns bei dem Anblick vor Freude hüpfen würden – an dem ebenfalls ausgestellten Bayerischen Verdienstorden von Thomas Gottschalk, verdeutlicht bereits, wie viel mehr Geschichtslücken als Erläuterungen die von Horst Seehofer inspirierte Ausstellung bietet. Wenn zum Beispiel im selben Kulturkabinett die Geschichte des Figurentheaters in Bayern einzig an den fernsehbekannten Marionetten der Augsburger Puppenkiste festgemacht wird, bleibt unerwähnt, dass das Münchner Marionettentheater das europaweit älteste Marionettentheater mit einem festen Haus ist.

In München selbst scheint man wenig Wert auf die einstige Bedeutung der Stadt für das Figurentheater zu legen. Dabei konnte man hier sogar für eine kurze Zeit das Figurentheater an der Theaterakademie August Everding studieren. Doch noch ehe die ersten Studierenden dort ihren Abschluss machen konnten, wurde der Studiengang aus Kostengründen wieder eingestellt. Welche Möglichkeit damit auch für die Münchner Stadtkultur vertan wurde, wird deutlich, wenn man nach Stuttgart blickt, wo der dortige Studiengang Figurentheater auch jenseits der Hochschule für Musik und darstellende Kunst eine spannende Figurentheaterszene in der Stadt gedeihen lässt. In München ist die Szene indes so übersichtlich, dass der Giesinger Kulturpreis seine ursprüngliche Konzentration auf die regionale Kultur aufgeben musste, als er vor Jahren einmal die besonderen Errungenschaften des Figurentheaters auslobte.

Aber trotzdem gibt es noch einige beachtliche Figurentheaterdarbietungen in München. Einer der Höhepunkte für hiesige Fans ist alle zwei Jahre das Internationale Figurentheaterfestival München mit dem wundervollen Namen »Wunder.«, das heuer vom 14. Oktober bis 8. November mit einem international besetzten Programm beweist, dass Figurentheater nicht nur wunderbar Geschichten erzählen, sondern eben auch Geschichte spannend erläutern kann. So bildet etwa das niederländische Performancekollektiv Hotel Modern mit Miniaturbauten das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau nach, um darin mit über 3000 fingergroßen Figuren den grausamen Alltag in jenem Lager nachzustellen. Mit Mikrokameras filmen sie zugleich das Geschehen, um es mit entsprechenden Perspektivwechseln auf einer Leinwand sichtbar zu machen. Mit der Animation von Miniaturen, Livegeräuschen und Projektionen macht »KAMP« in den Kammerspielen das Unvorstellbare der NS-Vernichtungsmaschinerie im Zweiten Weltkrieg gegenwärtig und nahezu körperlich erlebbar.

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Javier Aranda erzählt in »VIDA« die Lebensgeschichte seiner Mutter | © Compañia Javier Aranda

Begleitend zum Festival, das unter dem Motto »Macht Geschichte!« steht, zeigt das Münchner Filmmuseum animierte Dokumentarfilme, die Gräueltaten und Tabuthemen behandeln, welche ohne die genutzten Animationen in der Darstellung womöglich unerträglich ausgefallen wären. Umgekehrt nutzen die Münchner Kammerspiele in »Les statues rêvent aussi« wieder die Kameratechnik als dramatisches Mittel, um via Internet ein Schauspiel gleichzeitig in München und in Westafrika aufzuführen, mit Schauspielern und Zuschauern also, die die gemeinsame Regiearbeit des burkinischen Choreografen Serge Aimé Coulibaly und des Münchner Regisseurs Jan-Christoph Gockel über die in München zum Leben erwachte Statue der westafrikanischen Prinzessin Yennenga trotz der 7000 Kilometer Entfernung voneinander nun gemeinsam erleben. Die Schauburg erweitert derweil ein weiteres Mal die Vorstellung davon, was Kinder- und Jugendtheater alles sein kann, und lädt zu einer Performance-Lecture des belgischen Choreografen Ugo Dehaes ein, der in »Simple Machines« mit Robotern zum Anfassen zeigt, wie diese auch ohne ihn neue Choreografien entwickeln können.

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Kaffeebohnen und Zuckerwatte – Laia RiCas Stück »Kaffee mit Zucker?« © Pablo Hassmann

Nun werden aber im Figurentheater längst nicht nur Marionetten, Handpuppen oder ähnliche Objekte beseelt respektive animiert. So mischt das Ljubljana Puppet Theatre in »Irgendwo anders« die klassische Figurenanimation mit Livevideoprojektionen und virtuellen Zeichnungen so geschickt, dass die Grenze zwischen dem realen und dem imaginierten Bild verschwimmt. Kreidezeichnungen auf der Schultafel, mit denen ein Mädchen dem tatsächlich erlebten Krieg entfliehen mag, werden in der Pasinger Fabrik lebendig. Der Spanier Javier Aranda wiederum benötigt in »Vida« neben seinen Händen nur die von ihm animierten Gegenstände aus dem Nähkorb seiner Mutter, um damit im Instituto Cervantes ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Die aus El Salvador stammende und in Deutschland aufgewachsene Laia RiCa spielt mit handelsüblichem Kaffee, mit dem sie in ihrer Aufführung unter anderem wohlriechende Bilder malt, sowie mit Zuckerwatte, die sie auch mal wie Rauchwölkchen aufsteigen lässt oder die sie sich als Maske über den eigenen Kopf stülpt. »Dass die Französische Revolution ohne den transatlantischen kolonialen Handel gar nicht möglich gewesen wäre und dass man für die Freiheit hier Sklaven auf den Plantagen dort brauchte, vergessen wir oft«, sagt sie zu Beginn ihres mehrfach preisgekürten Stücks »Kaffee mit Zucker?«, mit dem das diesjährige Festival startet. An die dreißig Produktionen aus Slowenien, Frankreich, Belgien, Norwegen, Spanien, El Salvador, den Niederlanden, Afghanistan und Deutschland erforschen historische Wunde(r)-Punkte und große Themen. Zudem bietet das 6. Papiertheaterfestival München vom 20. bis 23. Oktober im Bürgerpark Oberföhring spannende Beispiele für eine weitere, diesmal papierbezogene Möglichkeit eines live animierten Schauspiels. ||

WUNDER. INTERNATIONALES FIGURENTHEATERFESTIVAL
Verschiedene Orte | 14. Okt. bis 8. Nov.
Programm und Tickets

Weiteres zum Theatergeschehen in München finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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