Für die heißen Tage haben unsere Autoren auch in diesem Jahr wieder einige Lesetipps zusammengestellt. Weitere Empfehlungen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Lesetipps für den Sommer
Christian Kracht – Eurotrash
Ballast der Erinnerung
Es ist das Buch einer Reise, eines Roadtrips der etwas anderen Art. Der Autor Christian Kracht schickt in seinem aktuellen Roman »Eurotrash« einen Ich-Erzähler namens Christian Kracht auf eine letzte Reise mit seiner alten Mutter. Im Taxi reisen sie durch die Schweiz, verschwenden Mutters Franken und träumen von Afrika. Mutter und Sohn Kracht, sie im Dauerrausch, er das Muttersöhnchen, das in ihrer Gegenwart nicht nur an seinem schriftstellerischen Talent zweifelt. Kracht spielt mit Autobiografie und Fiktion, lässt die Rollen verschwimmen. Wie auch die Erinnerung im Laufe der Jahre verschwimmt, einzelne Bilder tauchen klar auf, anderes bleibt im Dunkel.
Die Mutter ist eine Frau, die man schwer fassen kann. Die als Kind missbraucht wurde und wegsah, als ihrem Sohn das Gleiche geschah. Deren Wohlstand auf schmutzigem Nazigeld basiert und die dieses nun in gro ßem Stil verschenken will. Die Scheiße ist allgegenwärtig in ihrer Beziehung, nicht nur im Stomabeutel der Mutter, der beide zu nie geahnter Intimität zwingt. Trotzdem, auch wenn es aus allen Erinnerungsritzen stinkt: Die beiden kommen sich näher auf dieser Reise. Tatsächlich hat Kracht ein sehr zartes und vielschichtiges Buch geschrieben. Über Mütter und Söhne. Über Liebe. Vor allem aber über Unzulänglichkeiten. ||
ANNE FRITSCH
CHRISTIAN KRACHT: EUROTRASH
Kiepenheuer & Witsch, 2021 | 224 Seiten
22 Euro
David Foster Wallace – Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich
Zeitlose Komik
Wer hat sich nicht schon mal im Urlaub für die eigenen Landsleute geschämt, wie sie in ihren Adventure-Sandalen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit schlurfen. Insgeheim hat diese Scham eine kleine Schwester: die Sorge, sich womöglich nicht allzu sehr von ihnen zu unterscheiden, allem Individualtourismus zum Trotz. An der Oberfläche ist David Foster Wallaces Reportage »Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich« die Kreuzung aus genau jener Fremdscham und der Verlegenheit in Buchform.
Wallace setzte sich 1996 diesem Gefühlsdilemma auf einer einwöchigen Karibikkreuzfahrt aus. Sein Bericht bewegt sich irgendwo zwischen ethnologischer Studie und Leidensbericht, schlägt immer wieder von journalistischer Distanz zu entsetztem Kopfschütteln um. Auf dem Schiff ist kein Entkommen aus dem Mikrokosmos oktroyierter Sorglosigkeit, den die Ferienindustrie als maximale Erholung verkauft. Die zeitlose Komik dieses über zwanzig Jahre alten Textes macht ihn auch heute noch zu einem treuen Urlaubsbegleiter.
Ja, Wallace ist bisweilen boshaft, wenn er sich über die verzogene Enkelin seiner Tischnachbarn auslässt, aber der Grundton der Reportage ist der einer misstrauischen Empfindsamkeit, die in Misanthropie, aber auch in lethargische Rührung kippen kann. Ebenso klug wie selbstironisch beobachtet er seine Mitreisenden und natürlich auch sich selbst.
So ertappt er sich recht bald bei der Feststellung, dass sein Ferienoutfit nicht so individuell ist, wie er es gerne hätte, und winkt resigniert ab, als er merkt, dass ein kleiner Junge die gleiche Kappe trägt wie er: »Okay, ich geb’s zu – die Full-Color-Spiderman-Cap. Das ist eine lange Geschichte.« ||
SOFIA GLASL
DAVID FOSTER WALLACE: SCHRECKLICH AMÜSANT, ABER IN ZUKUNFT OHNE MICH
KiWi, 2012 | 176 Seiten | 10 Euro
A. Kendra Greene – Das Walmuseum, das Sie nie besuchen werden. Eine Reise nach Island
Kurioses
Gemessen an seiner Einwohnerzahl weist wohl kaum ein anderes Land eine so hohe Dichte an Museen auf wie Island. Auf 330 000 Bewohner kommen über 260 Museen, die meisten wurden erst ab der Jahrtausendwende gegründet. Ein paar stellt die amerikanische Kunstgrafikerin A. Kendra Greene in ihrem herrlichen Island-Reiseführer »Das Walmuseum, das Sie nie besuchen werden« vor. Oder wussten Sie, dass es dort ebenso ein »Phallologisches Museum« wie eines für »Isländische Zauberei und Hexerei« gibt? Letzteres beherbergt zugleich das Fremdenverkehrsbüro und wird geleitet von Siggi, der sich »Hexenmeister« nennt. Warum auch nicht, immerhin kennt die isländische Sprache 37 Wörter für Magie und Zauberei.
Nicht zu verwechseln ist das Zauberei- und Hexereimuseum freilich mit dem für Ungeheuer. Dieses befindet sich in Bíldudalur, einer Ortschaft, die passenderweise an Islands bekanntestem Ungeheuer-Fjord Arnarfjördur liegt. Gleich vier Meeresungeheuer sollen sich darin tummeln. Auch der Strandwandler treibt hier sein Unwesen, der bevorzugt schwangere Frauen ins Meer stößt. Womit bereits klar ist, dass es im »Museum der isländischen Ungeheuer« kaum Exponate zu sehen gibt. Dafür bekommt man umso mehr Geschichten zu hören, die sich die Isländer über die Jahrhunderte hinweg erzählt haben. Man muss also auch gar nicht unbedingt auf die Insel reisen, um an diesem Buch, reich an Kuriositäten, seine wahre Freude zu finden. ||
FLORIAN WELLE
A. KENDRA GREENE: DAS WALMUSEUM, DAS SIE NIE BESUCHEN WERDEN. EINE REISE NACH ISLAND
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Liebeskind Verlag, 2022 | 304 Seiten | 24 Euro
Hier noch einige Lesetipps aus früheren Ausgaben.
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